Zum Jahreswechsel
Ein paar Bemerkungen zu einem der wichtigsten Bücher der ökonomischen Literatur
Ludwig von Mises Nationalökonomie. Theorie des Handelns und Wirtschaftens
Eines der versprechendsten grossen Bücher, die einen Neudruck verdienen würden, ist wahrscheinlich von Mises’ Nationalökonomie. Theorie des Handelns und Wirtschaftens (1940). Durch sein Erscheinungsdatum ist es in Deutschland praktisch unbekannt geblieben, aber doch die einzige Version, in der Mises’ eigene Sprache erhalten ist.
Friedrich A. von Hayek*
Take Away
Ludwig von Mises’ grosse Leistung besteht im Wesentlichen darin, die Methode des Begreifen und Verstehen individuellen menschlichen Handelns in den Mittelpunkt der theoretischen Nationalökonomie gestellt zu haben. Dieses auf das Sinnerfassen gerichtete holistische Verfahren steht im Widerspruch zu all jenen quantitativen Methoden, die durch Ordnen, Messen, oder durch Vergleichen neue Erkenntnisse zu erzielen hoffen. In der Nationalökonomie gelang es Mises seine Methodik und die “Theorie des Handelns und Wirtschaftens” erstmals in einem geschlossenen System darzustellen und eine Gesamtschau der gesellschaftlichen Entwicklung aus einer praxeologischen Sicht vorzulegen.
I
Als sich im Wien der 1930er Jahre der politische Umschwung abzuzeichnen began und die rassistischen Übergriffe nicht mehr zu übersehen waren, nahm Mises die rettende
Einladung William Rappard’s für das Studienjahr 1934/35 ans "Institut Universitaire des Hautes Etudes" nach Genf zu kommen, sehr dankbar aber nicht ohne jedes Zögern an. Der Gedanke, sein berühmtes Privat-Seminar, seine gesellschaftliche Stellung, nicht zuletzt aber auch seine Position in der Kammerorganisation aufgeben zu müssen, fiel ihm schwer. Nach langen Vorbereitungen und geschickt geführten Verhandlungen über die Beibehaltung seiner Kammer-Privilegien aber verliess Mises im Oktober 1934 Wien, um am Institut seine einzige regulär bezahlte akademische Position zu übernehmen und die sechs “glücklichsten Jahre seines Lebens” zu verbringen. Schon nach kurzer Zeit gelang es Mises, ähnlich wie in seinem Wiener Seminar auch in Genf u.a. mit Wilhelm Röpke, Louis Rougier, Louis Baudin, seinen beiden ehemaligen Studenten Lene Lieser und Gottfried von Haberler und einer Reihe Genfer Studenten eine interessierte Gruppe um sich zu scharen. Gelegentlich stiessen auch Schriftsteller, wie etwa Musil oder Rhoda-*Friedrich A. von Hayek in einem Brief (Aug. 1974) an den Autor dieses Beitrages. Rhoda und von Nazis verfolgte Journalisten zu diesen Diskussionen. Die Schweizer Einwanderungspolitik (der allerdings der Gedanke einer ‘Überfremdung’ seit 1931 auch kaum mehr fremd war) und die politischen wie auch gesellschaftlichen Entwicklungen in Deutschland, Österreich und Italien machten das zu dieser Zeit noch sichere Genf zu einem temporären Sammelbecken internationaler Intellektualität.
Die immer enger werdende Umzingelung der Schweiz durch Hitler’s und Mussolini’s Truppen machte allerdings ab 1940 die Lage für Mises und seine junge Frau auch in Genf so gefährlich, dass er sich um ein US-Einwanderungsvisum bewarb. Es ist zu einem guten Teil den amerikanischen Professoren B. Anderson, R. Calkins, und E.C. Penrose zu verdanken, dass ihm mit einer Art proforma Berufung an die UC Berkeley eine ‘non-quota’ Einreise in die USA ermöglicht wurde. Unter waghalsigen Umständen und durch Einsatz seiner Ersparnisse gelang es ihm im July 1940 mit der Gestapo im Nacken über Südfrankreich und Spanien nach Lissabon zu entkommen. Mit einem der letzten Schiffe erreichte er knapp 60 jährig, verbittert, entwurzelt und mittellos im August 1940 New York.
II
Nur wenige Wochen vor seiner Flucht erschien in Genf sein magnum opus, Nationalökonomie. Theorie des Handelns und Wirtschaftens. Zeitbedingt erreichte dieses Werk das deutschsprachige Publikum allerdings nicht mehr und blieb daher nahezu unbekannt. Wenn auch keineswegs sein letztes, stellt dieses Buch doch die Krönung seines Werkes dar. Hier gelang es Mises seine Methodik und die “Theorie des Handelns und Wirtschaftens” erstmals in einem geschlossenen System darzustellen und eine Gesamtschau der gesellschaftlichen Entwicklung aus seiner praxeologischen Sicht vorzulegen. Es ist dem selbstlosen Einsatz Michael Kastner’s (www.buchausgabe.de) zu danken, dass dieser Klassiker der nationalökonomischen Literatur als Alternative zur quantitativ betriebenen Wirtschaftswissenschaft endlich wieder verfügbar ist.
Mises’ Stellung innerhalb der Sozialwissenschaften ist mit dem Begriff der Praxeologie verbunden. Diesen Begriff führte er in Anlehnung an A. Espinas, der ihn 1897 erstmals zur Beschreibung einer allgemeinen Lehre vom menschlichen Handeln (ähnlich wie später Slutsky) verwendet hatte, in die Nationalokönomie ein. In der Philosophie taucht die Praxeologie mitunter auch als die Lehre der Erfahrungsregeln auf, und auch in der Psychologie wird Praxeologie in einem von Mises unterschiedlichen Sinn verwendet.
Für Mises ist die Praxeologie im Wesentlichen “eine Lehre von den Mitteln zur Erreichung von Zielen, nicht eine Lehre von der richtigen Zielwahl” und somit nur ein Teil einer allgemeinen Wissenschaft des menschlichen Handelns. Die Praxeologie hat uns weder zu sagen, welche Ziele wir uns setzen noch wie wir diese bewerten sollen. Weil sie immer die Ergebnisse subjektiver Präferenzreihungen widerspiegeln liegen unsere Zielvorgaben, Entscheidungen und all unsere, sich nach den jeweiligen Umständen ändernden Bewertungen der Dinge und unserer Umgebung immer jenseits redlicher Wissenschaftlichkeit. Diesen Ansatz entwickelte Mises folgerichtig zur strikten Ablehnung aller zweck- und regelgebundenen Eingriffe in den Wirtschaftsablauf. Jede Intervention, die eine Regulierung des Marktprozesses zum Ziel hat erfordert zu dessen Erreichung logisch weitere Eingriffe und muss daher in einem Zustand münden, in dem die individuelle-, unternehmerische-, und damit auch die politische Freiheit zum Erliegen kommt.
Bei Mises steht das Individuum im Zentrum der Erforschung des sozialen Geschehens und sein Erkenntnisziel ist somit weder das Ordnen wirtschaftlicher Vorgänge nach Grössenkriterien, noch ist hier Platz für die zeitlose Statik eines hypothetischen Gleichgewichtszustandes. Vielmehr geht es Mises im Wesentlichen darum, die Beweggründe und das spontane Verhalten des Einzelnen, der sich mit wachem Verstand an ständig ändernde Situationen anzupassen versucht, zu erforschen. Der Unterschied zwischen einer “ordnenden” und einer “verstehenden” Nationalökonomie wird hier besonders klar. In anderen Worten, die Nationalökonomie ist eine erklärende und nicht eine beschreibende Wissenschaft.
Die Praxeologie bei Mises unterscheidet sich von der nomothetischen Erfahrungswissenschaft dadurch, dass ihre apriorischen Sätze unter den ihr eigenen Voraussetzungen ausnahmslose Geltung beanspruchen. Die methodologisch individualistische Betrachtungsweise bringt es nun mit sich, dass hier im Gegensatz zur Klassik und Neo-Klassik, die Menschen als höchst ungleich angesehen werden und somit auch ungleiche Fähigkeiten, Werturteile oder Bedürfnisse haben. Schliesslich verhalten sich Menschen gegenüber Dingen ja nicht deswegen gleich, weil diese Dinge in irgendeinem physikalischen Sinn gleich sind, sondern nur weil sie erfahren haben, sie als zur selben Gruppe gehörig zu klassifizieren, und von ihnen eine gleiche Wirkung zu erwarten. Soweit es daher um menschliches Handeln geht, sind die Dinge immer das, wofür sie von Menschen gehalten werden.
III
Die zahllosen und vielschichtigen Beziehungen von Mensch zu Mensch und von Menschen zu Dingen entstehen aus Handlungen, die Mises mit Hilfe der Praxeologie systematisch zu begreifen und zu verstehen versucht. Hier geht es um die fundamentale Unterscheidung zwischen dem Verstehen als historische Methode und dem Verstehen als Sinndeutung typischer Handlungsabläufe mit Hilfe typischer Denkschemen. Mit diesem letzteren Ansatz versucht nun Mises den Sinn menschlichen Handelns durch diskursives Denken zu begreifen oder zu deuten. Das Begreifen ist somit auf das Erfassen des Sinnes des Handelns als reines Zweckverfolgen und Zielesuchen gerichtet, ohne die Beschaffenheit der Zwecke und Ziele zu berücksichtigen. Das Verstehen hingegen hat den Sinn zum Gegenstand, den die handelnden Menschen mit ihren Zielen verbinden. Es sucht den Sinn des Zieles, die Beweggründe, das Zustandekommen, oder die sozialen Auswirkungen und Reaktionen menschlichen Handelns systematisch im Rahmen unserer eigenen Erfahrung durch Nachvollziehen zu verstehen.
Obwohl uns die einzelnen Elemente komplexer Ereignisse aus der täglichen Erfahrung vertraut sind, können wir nur durch die bewusste Anstrengung des darauf gerichteten Denkens allmählich die notwendigen Wirkungen der Kombination solcher Tätigkeiten einer unbekannten Anzahl von Menschen sehen. Wir verstehen die Art und Weise, in der die Resultate hervorgebracht werden können, obwohl wir möglicherweise nie in der Lage sein werden, den ganzen Prozess einer Handlung zu überblicken oder gar seinen genauen Verlauf vorauszusagen oder zu rekonstruieren. Die Praxeologie unterscheidet sich somit nur durch ihre systematische Analyse von der Logik und den Verfahren, die der Mensch im Alltag nutzt.
In allen unseren Handlungen folgen wir der Logik der Auswahl die vom jeweiligen Wissensstand der Beteiligten abhängt, weil der Plan einer Person auf den erwarteten Handlungen anderer Personen beruht. Es ist daher für die Verträglichkeit der verschiedenen Vorhaben wesentlich, dass die Absichten der Marktteilnehmer jene Handlungen enthalten, die zum Plan der ersten Person geführt hat. So hängen alle Preise und Mengen der im Markt umgesetzten Güter von diesen individuellen und somit subjektiven Fähigkeiten, Werturteilen und Bedürfnissen ab. In der Praxeologie deuten wir daher den Sinn typischer Handlungsabläufe anhand von Denkschemen, die uns die reine Logik der Wahl bietet, ganz einfach weil wir a priori wissen, dass jede menschliche Handlung in der Absicht unternommen wird, einen besseren Zustand als den gegenwärtigen herbei zu führen.
Soziale Phänomene allerdings lernen wir nach Mises erst dann aus der Gesamtheit der beobachteten Erscheinungen herauszuheben und zu analysieren, nachdem wir die einzelnen Elemente mit bekannten Eigenschaften systematisch in Beziehung gesetzt und versucht haben sie zu rekonstruieren. Dies ist Mises’ oft missverstandene “praxeologische a priori”: das Deuten der Erfahrung. Wir können das Handeln Anderer ja nur deuten und begreifen weil wir selbst handelnde Menschen sind. Dies lässt sich nach Mises verkürzt auf die Formel bringen Begreifen ist Denken, Verstehen ist Schauen.
… praxeology does not deal with the actual content of value judgments. It deals only with the fact that men value and then act according to their valuations. What we know about the actual content of judgments of value can be derived only from experience.
Ludwig von Mises