Reguliert das Netz!
Forderungen von Internet-Giganten nach Beschränkung und Zensur; die spontane Ordnung ist in Gefahr
(Erstveröffentlichung am 18. April 2019 bei eigentümlich frei)
Es ist nicht erstaunlich: Immer mehr wird nach der Regulierung des Internets gerufen. Was aber auffällt: Im Chor stehen nicht nur Regierungen und vermeintliche Offliner. Die schrillsten Töne trällern neuerdings die Internet-Giganten selber. Wenn das nicht alle Alarmglocken läuten lässt.
Es gibt kaum einen Verbund, der so einfach beweisen kann, dass spontane Ordnung wirklich funktioniert, wie das Internet. Es ist gleich doppelt dezentral aufgebaut. Einerseits basiert seine Infrastruktur auf der weitgehend unkoordinierten Gegenseitigkeit von Telekommunikationsnetzen, „Service-Level-Providern“, Inhaltsanbietern und vielen anderen. Andererseits kommen seine Inhalte und Nutzungen von Myriaden unabhängiger Akteure, die oft nicht einmal voneinander wissen.
Zwar plant jeder Akteur im Internet – ob in Infrastruktur oder in Inhalt und Nutzung –, was individuell zu machen ist. Selbstverständlich kennt er auch seine Schnittstellen mit anderen Akteuren. Doch er setzt explizit darauf, vom „Großen und Ganzen“ des Netzes zu profitieren – gerade weil er diese Dimensionen gar nicht einschätzen kann.
Wenn das Individuum ergebnisoffen nach einem Restaurant im Netz sucht, dann sucht es, weil es nicht weiß, was das „Große und Ganze“ anzubieten hat. Das Individuum hat eine Ahnung, es könne etwas finden, das bisher unbekannt war. Wenn der Infrastrukturanbieter von Telefonleitungen entscheidet, eine internetfähige Leitung zwischen Bad Mergentheim und Weikersheim zu erneuern, dann auch in der Vorwegnahme, dass ein anderer, ihm unbekannter, Anbieter eine Leitung irgendwo in den USA legt – eine Leitung, die zum gesamten Netz des Internets passt.
Vielfalt und Unbekanntheit
Zwei Faktoren machen das Internet stark: Seine Vielfalt und die positiven Effekte aus der Unbekanntheit seiner Grenzen. Die Vielfalt ist geprägt von gleichzeitiger Kooperation und Wettbewerb der verschiedenen Anbieter im Netz. Sie sind aufeinander angewiesen, damit das Internet funktioniert und möglichst attraktiv bleibt. Doch sie machen einander Konkurrenz in Innovation, Abdeckung und Servicequalität, um selbst für Nutzer am attraktivsten zu sein.
Das Internet lebt nicht nur von der Kooperations- und Wettbewerbsdynamik, sondern auch von der Unbekanntheit seiner Grenzen. Es ist nicht nur so, dass sich diese Grenzen ausdehnen und erneuern. Es ist vielmehr der Fall, dass sie grundsätzlich unbekannt sind. Niemand weiß, was man alles mit dem Internet anstellen kann. Niemand kennt alle seine Qualitäten. Niemand kann seine Potentiale richtig einschätzen. Das Internet selber ist ein Entdeckungsverfahren.
Beides sind Stärken. Vielfalt produziert Kapital, und Unbekanntheit sorgt für Entdeckung und Verwertung von Informationen. Gerade das macht aus dem Internet einen Verbund funktionierender spontaner Ordnungen. Doch gerade das ruft auch seine Gegner auf den Plan.
Monopol und Plan
Regierungen haben grundsätzlich Angst vor und Abneigung gegenüber allem, das nicht abgrenzbar überblickt oder geplant werden kann. Entsprechend versuchen sie schon seit langem, zu intervenieren. „Liberalere“ Länder geben dem Internet Grenzen. „Kollektivistischere“ Staaten versuchen gleich, das Netz zu planen, Inhalte zu verbieten und Nutzungen vorzuschreiben. Alle suchen Wege, es zu besteuern. Doch auch Unternehmen haben ein Interesse an der Regulierung des Internets. Praktisch immer geht es darum, den Wettbewerb einzudämmen. „Offliner“ wollen kein Internet, weil es ihre ansässigen Geschäftsmodelle herausfordert.
Doch auch die Internet-Giganten wollen Regulierung. Google zum Beispiel schreit schon seit langem nach Netzneutralität, um allen Infrastrukturanbietern seine Produkte aufzubürden. Vor kurzem erst bettelte Facebook um staatlich vorgeschriebene Inhaltskontrolle – im Klartext: Zensur. Das Kalkül ist leicht zu durchschauen. Erstens erhält Facebook damit eine staatliche Legitimierung. Zweitens und viel wichtiger: Facebook ist so groß, dass es fast alleine die Zensurinstrumente einsetzen kann. Die von der Plattform geforderte Regulierung ist ein Mittel, kleinere Wettbewerber vom Markt zu halten. Denn: Wäre die Inhaltskontrolle so wichtig, würde sie Facebook ja selber installieren, ohne eine entsprechende Regulierung dafür zu fordern.
Das offene Internet und seine Gegner
Während es immer schon so war, dass Regierungen ein zwiespältiges Verhältnis zum Internet hatten, ist es nun salonfähig geworden, dass sich Internet-Giganten gegen die Offenheit des Netzes aussprechen. Noch einmal kommt es zur Allianz von „big business“ und „big government“. Und noch einmal sind es die Bürgerinnen und Bürger sowie die Innovativen und Kleinen, die dafür bezahlen werden.
Der Ruf nach Netzregulierung ist alt. Aber erstmals ertönt er gleichgerichtet in Nordamerika, Europa und Asien. Auch erstmalig ist eine Stellungnahme der OECD, die diese Regulierung befürwortet. Und dazu passt es wie die Faust aufs Auge, dass Wettbewerbsbehörden sich der Sache auch noch annehmen. Das offene Internet ist in Gefahr. Seine Gegner sind stark.
* Henrique Schneider ist Volkswirt, Ressortleiter im Schweizerischen Gewerbeverband und in der Erwachsenenbildung tätig.