Preußische Reformen: Waffen, Wissenschaft
und Verfassung
Ein Versuch, Freiheit „von oben“ voranzutreiben
Preußen müsse sich auf „das dreifache Primat der Waffen, der Wissenschaft und der Verfassung“ gründen. Feldmarschall August Wilhelm Graf Neidhardt von Gneisenau (1760-1831) brachte so den Inhalt der Preußischen Reformen auf den Punkt. Dass ein Land von oben umgebaut – ja sogar befreit – werden kann, zeigen diese Reformen. Sie zeigen aber auch die Ungereimtheiten eines Prozesses „von oben“ auf. Die Niederlage Preußens bei Jena und Auerstedt im Jahr 1806 war bitter. Napoleon hatte gesiegt; das Königreich war am Boden. Mehr noch: Die napoleonische Schmach und der damit einhergehende Verlust eines guten Drittels des Territoriums wurden als Bankrotterklärung des aufgeklärten Absolutismus verstanden. Reformen mussten her.
Inspiriert von der Philosophie des Preußen Immanuel Kant (1724-1804) legte eine Gruppe von Reformern im Jahr 1807 ihre Gedanken in der „Rigaer Denkschrift“ nieder. Ihre Unterzeichner waren: Barthold Georg Niebuhr (1776-1831; späterer Professor und Diplomat), Karl Freiherr vom Stein zum Altenstein (1770-1840; späterer Minister), Theodor von Schön (1773-1856, späterer Politiker und Alterspräsident bei der ersten Sitzung der Preußischen Nationalversammlung) sowie Karl August Fürst von Hardenberg (1750-1822; späterer Kanzler). Preußen stärken – die Preußen befreien.
Obschon Kaiser Friedrich Wilhelm III. den Reformansinnen anfänglich nichts abgewinnen konnte, gab er dem Druck des Faktischen nach. Er merkte, dass die alte Ordnung nicht mehr zu erhalten war. Er installierte Heinrich Friedrich Karl Freiherr vom Stein (1757-1831) als leitenden Minister im Jahr 1807 und gab ihm freie Hand. Auf ihn folgte Fürst Hardenberg in gleicher Position – ab 1810 als Kanzler – mit den gleichen Freiheiten. Hauptziel der Reform war es, durch eine Erneuerung von innen den Weg zur Befreiung von der faktischen französischen Oberherrschaft und den Wiederaufstieg zur Großmacht zu ermöglichen. Das Innere Preußens, das es zu reformieren galt, wurde schnell identifiziert: Es waren die Bürger – damals umfasste der Begriff nur die freien Männer. Es sollte also ein Staat mit Mitwirkungsmöglichkeiten der Bürger auf der Grundlage von persönlicher Freiheit und Gleichheit vor dem Gesetz entstehen. Daraus ließen sich die anderen Aspekte der Reformen ableiten: Föderalismus,
Kommunalautonomie, allgemeine Wehrpflicht (eine Idee des späteren Generalmajors und Publizisten Carl von Clausewitz, 1780-1831), Bauernbefreiung, Gewerbefreiheit, Bildung, Emanzipation der Juden, Trennung von Justiz und Verwaltung sowie die Abschaffung der Adelsprivilegien.
Widerstand – konservativ und progressiv
Die Reformen blieben nicht ohne Widerstand. Der Adel widersetzte sich der Abschaffung althergebrachter Privilegien. Dazu gehörten beispielsweise eine eigene Gerichtsbarkeit, das Monopol über die Heeresführung sowie die Macht über die gutsverpflichteten Bauern. Ganz generell wurde die Agrarreform ohnehin zum Stolperstein für die Reformer. Denn sie fanden keine zufriedenstellende Verbindung zwischen dem Schutz des Eigentums und der Bauernbefreiung. Ihre Lösung – die Abtretung von Grund – führte zu einer relativen Verarmung sowohl der Bauern als auch des Adels.
Die bürgerlichen Städter lehnten wiederum die eingeführte Gewerbefreiheit ab. Die Abschaffung der Zunftpflicht, die Zulassung von Wettbewerb, die freie Berufswahl und die gewerbliche Angleichung von Stadt und Land waren ihnen ein Dorn im Auge. Die preußischen Reformer orientierten sich dabei am Wirtschaftsliberalismus. Die Schriften von Adam Smith komplettierten hier jene Kants. Vordergründig war allerdings nicht die Förderung einer noch kaum vorhandenen Industrie. Die Gewerbefreiheit zielte vor allem auf die Beseitigung von Schranken für die ländliche Gewerbetätigkeit. Selbst die Bildungsreform Wilhelm von Humboldts wurde scharf kritisiert. Er ging einem humanistischen Ideal nach: Der selbstverantwortliche Bürger steht im Mittelpunkt des Staatswesens und muss deshalb umfassend gebildet werden. Im Unterschied zur utilitaristischen Pädagogik der Aufklärung, die zweckdienliches Wissen für das praktische Leben vermitteln wollte, setzte der Humanismus auf eine allgemeine und zweckfreie Menschenbildung. Attackiert wurde diese Ansicht von Progressiven, die nicht die Bildung des Individuums, sondern die Nationalerziehung wollten. Abgelehnt wurde Humboldt auch von Konservativen, die zurück zum Praktischen wollten.
Innere Differenzierung und Grenzen
Die Reformer waren sich freilich nicht in allem einig. Zum Beispiel: Stein und Hardenberg ergänzten sich als Minister; aber sie standen für zwei unterschiedliche Ansätze. Steins Ansatz war eher antiaufklärerisch und traditionalistisch und knüpfte an adlige Absolutismuskritik an. Er stand den zentralistischen Bürokratien skeptisch gegenüber und trat für Kollegialität in der Verwaltung und für Dezentralisierung ein. Hardenberg nahm die Prinzipien der Französischen Revolution und Anregungen der napoleonischen Herrschaftspraxis auf. Im Gegensatz zu Stein war er aber Etatist. Er
strebte eine Stärkung des Staates durch eine straffe und zentral organisierte Verwaltung an.
Ab 1814 – dem Wiener Kongress – und spätestens ab 1818 wurden restaurative Tendenzen in Preußen stark. Bald sollten die Reformen nicht weiter angetrieben werden. Sie kamen zum Stillstand. Einerseits überforderten sie Bürger und Staat. Andererseits waren die Reformen eine bürokratische Modernisierungsstrategie, die an den typischen Problemen aller „von oben“ entworfenen Pläne litt: Den Reformern fehlte es an Information über das, was wirklich geschah, und über die Reaktionen der Leute.
Trotzdem waren die preußischen Reformen ein großartiger Versuch, die Freiheit voranzutreiben. Gneisenau mag sogar recht behalten haben, als er seine eigene konservative Wende in einem Brief erklärte: „Freiheit war das Anliegen. Sie wird einst kommen. Doch ihre Zeit ist nicht jetzt.”
Literatur
Nolte, Paul. Staatsbildung als Gesellschaftsreform: Politische Reformen in Preußen und den süddeutschen Staaten 1800–1820. Campus, 2020.
Eckert, Georg, Carola Groppe und Ulrike Höroldt. Preußische Staatsmänner. Herkunft, Erziehung und Ausbildung, Karrieren, Dienstalltag und Weltbilder zwischen 1740 und 1806. Duncker & Humblot, 2023.