Auf der Suche nach dem Grund für Krieg in der Ukraine
Deutsche Übersetzung eines Beitrags von Karl-Peter Schwarz*, The European Conservative
Vladimir Putins Krieg gegen die Ukraine hat nicht erst am 22. Februar 2022 begonnen. Aber im Unterschied zu seiner Annexion der Halbinsel Krim und der Intervention an der Seite der Separatisten in der Ostukraine im Jahr 2014, geht es diesmal um mehr als nur einen weiteren völkerrechtswidrigen Angriff auf die Souveränität einer Nation.
Putin schickt die russischen Soldaten für eine neue Weltordnung in die Schlacht, die in Wirklichkeit jene vor dem Bankrott der Sowjetunion ist. “Der Krieg ist eine bloße Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln“, lehrte Carl von Clausewitz (1780-1831). Um zu verstehen, was vor unseren Augen geschieht, empfiehlt es sich, ein paar Schritte zurückzutreten, um den weiteren Horizont zu erfassen.
Vor mehr als vierzig Jahren, mitten im Kalten Krieg, stellte sich der deutsche Journalist Wilhelm Bittdorf in einem Essay für das Hamburger Nachrichtenmagazin „Der Spiegel“ folgende Szene vor:
“In Moskau läuten eines Morgens die Kirchenglocken und die Mitglieder des Zentralkomitees der KPdSU verlassen zu Fuß den Kreml und begeben sich gemessenen Schritts über den Roten Platz in die Basilius-Kathedrale. Dort sinken sie in die Knie. Nur der Genosse Suslow bleibt stehen und verkündet den einstimmigen Beschluß des ZK, dem gottlosen Kommunismus mit sofortiger Wirkung abzuschwören. Um die so lange mißachtete religiöse Sehnsucht des russischen Volkes zu erfüllen, werde man die Sowjet-Union in eine christliche Monarchie zurückverwandeln. Und man werde den großen Dichter und Künder russischen Wesens, Alexander Solschenizyn, respektvoll bitten, als Zar Alexander IV. die Herrschaft zu übernehmen.“
Und Bittorf weiter: „Unterstellt, dies Wunder geschähe. Wären wir dann alle unsere Sorgen und Ängste los? Auch ein nichtkommunistisches, aber dafür um so nationaleres und slawenstolzes Rußland würde seinen osteuropäischen Besitzstand wahren wollen.“
In einer idealen, freien und friedliebenden Welt, deren Voraussetzungen Ludwig von Mises in seinen politischen Schriften analysierte, wären uns vielleicht nicht alle, aber doch die größten Sorgen erspart geblieben. In einer solchen Welt hätte Russland nicht nur den Kommunismus aufgegeben, sondern es hätte sich als imperialistischer Staat aufgelöst. Es hätte Solschenizyns Utopie von einer friedliebenden Monarchie ohne Supermachtambitionen verwirklicht, die mit einem Minimum an Macht und Herrschaft ausgekommen wäre und ein Maximum an lokaler Selbstverwaltung nach Schweizer Vorbild zugelassen hätte. In einer solchen Welt wäre eine Friedensordnung leicht realisierbar gewesen.
In der realen Welt der Staaten aber wären wir unsere Sorgen und Ängste auch dann nicht losgeworden, wenn an der Spitze des Kremls nicht der KGB-Agent Putin, sondern eine moralisch unanfechtbare Persönlichkeit von Statur des ehemaligen Gulag-Häftlings Solschenizyn stünde. In der europäischen Staatenwelt besteht zwischen Russland und den Ländern im Westen nämlich ein so gewaltiges geopolitisches Ungleichgewicht, dass nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion auch bei bestem Willen keine Friedensordnung errichtet werden konnte, die den Interessen aller Staaten entsprochen hätte.
Es war dieses Übergewicht, das nach dem Zweiten Weltkrieg die Präsenz der Amerikaner auf dem europäischen Kontinent erforderte. Nach dem berühmten Spruch des britischen Generals Hastings Ismay war es die Funktion der Nato, “to keep the Russians out, the Americans in, and the Germans down.”Mehr als eine prekäre friedliche Koexistenz war unter den gegebenen Umständen nicht zu erreichen gewesen.
Wie schon vor dem Zweiten Weltkrieg ging es dabei vor allem um die Länder in dem Korridor, der sich vom Baltikum bis zum Schwarzen Meer erstreckt. Ihre prekäre Lage zwischen Deutschland im Westen und Russland im Osten beschreibt am besten der heute kaum noch verwendete Begriff „Zwischeneuropa“. Die in diesem Raum lebenden Nationen – Weißrussen und Ukrainer, Esten, Letten und Litauer, Polen, Tschechen und Slowaken, Ungarn, Bulgaren und Rumänen – haben die deutsche Besatzung ebenso erlitten wie die sowjetische. Die Erfahrungen mit „München“, dem Hitler-Stalin-Pakt und „Jalta“ haben sich tief in ihre kollektive Erinnerung eingegraben.
Als das totalitäre sowjetische System implodierte, konnten einige dieser Nationen zum ersten Mal frei über ihre Zukunft entscheiden. Weil sie Russland fürchten und Deutschland misstrauen, suchten sie das Bündnis mit Amerika. Von Anfang an war ihnen klar, dass in einem solchen Bündnis die Interessen der militärisch überlegenen USA dominieren würden. Das ist auch heute noch so. Von einer eigenständigen, von Amerika abgekoppelten europäischen Sicherheitsarchitektur halten sie dennoch nichts. Mit gutem Grund sehen sie in der EU einen deutsch-französisch dominierten Staatenbund, der auf ihre Bedürfnisse, Gefühle und Traditionen keine Rücksicht nimmt. Insbesondere die Polen und die Ungarn werden in der EU nicht als souveräne gleichberechtigte Partner respektiert, sondern erpresst und schikaniert.
Es ist eine russische Legende, dass die Nato ein Versprechen gebrochen hätten, diese Länder nicht aufzunehmen. Erst recht falsch ist es, dass die USA sie in das transatlantische Bündnis gedrängt hätten. Das Gegenteil war der Fall, sie alle wollten in die Nato, und die Nato ließ Zeit. Die amerikanischen Präsidenten George Bush sen. und Bill Clinton bremsten die Nato-Erweiterung, um die Regierung Boris Yeltsins nicht zu destabilisieren. Erst als sich herausstellte, dass Yeltsin sich nicht halten würde und ein neuer Ost-West-Gegensatz bevorstehe, willigten sie ein. Unter den ehemaligen Sowjetrepubliken gelang es aber nur Estland, Lettland und Litauen sich unter den transatlantischen Schirm zu stellen. Georgien, Moldawien, Weißrussland und die Ukraine hatten diese Chance nicht. Nach den anarchischen Jahren der Ära Jelzins trat Putin mit dem Ziel an, die russische Hegemonie zu sichern und die „abtrünnigen“ Sowjetrepubliken in die russische Einflusszone zurückzuholen.
Für die betroffenen Länder sind die Folgen fatal. 1992 stand die Ukraine ökonomisch deutlich besser da als Rumänien. Aber während Rumänien nach dem NATO-Beitritt rasch aufholen konnte, blieb die Ukraine zurück. Äußere Sicherheit ist eine unabdingbare Voraussetzung der politischen Stabilität, der Freiheit und des Wohlstands. Ohne sie stagniert die Wirtschaft; die sozialen Spannungen nehmen zu; die Abhängigkeit von der Hegemonialmacht steigt.
Da kein Land in die NATO aufgenommen werden kann, wenn es nicht die volle Souveränität über sein Staatsgebiet hat, bestand die russische Strategie zunächst darin, Separatisten zu unterstützen, Marionettenregierungen zu installieren und „Friedentruppen“ zu entsenden. Nach Transnistrien, Abchasien und Südossetien kamen die ostukrainischen „Volksrepubliken“ an der Reihe. Als logisch nächster Schritt war mit ihrer Annexion zu rechnen gewesen. Dass Putin sich nicht damit begnügen würde, sondern die Auslöschung des ukrainischen Staates beabsichtigte, hielt man im Westen für ausgeschlossen. Deutschland und Italien finanzieren seit vielen Jahren mit ihren Öl- und Gasimporten die russische Aufrüstung, während sie den dringenden Rat Donald Trumps, in ihre Verteidigung zu investieren und die Nato militärisch zu stärken, in den Wind schlugen.
Geopolitisch hat die Ukraine, der Putin das Lebensrecht bestreitet, ein ungleich größeres Gewicht als irgendeine andere ehemalige Sowjetrepublik westlich des Urals. Ohne sie kann es die von Putin angestrebte „Eurasische Union“ nicht geben. Aber wenn Russland die Kontrolle über die Ukraine mit ihren gewaltigen Ressourcen und ihrem geostrategisch Zugang zum Schwarzen Meer zurückgewinnt, wird es wieder eine Europa und Asien umspannende imperiale Macht, prophezeite Zbigniew Brzezinski vor 25 Jahren.
Eindringlich warnte Otto von Habsburg: „In der Zeit von Stalin bis Putin hat sich der russische Imperialismus immer wieder das Ziel gesetzt, die Ukraine erneut zu erobern, Russland einzuverleiben und als Ausgangspunkt für weitere große Operationen gegenüber Polen, beziehungsweise den anderen Teilen Europas, zu nutzen.“ Dies, und nicht etwa die angeblich bedrohliche „Einkreisung“ Russlands durch Nato-Staaten – wie viele rechte und linke Putin-Versteher in Amerika, in Europa und ganz besonders in Deutschland behaupten –, ist der wirkliche Grund des russischen Überfalls auf die Ukraine. Putin will, wie er mehrmals sagte, die Zerstörung des ukrainischen Staates. Auch wenn Kiew das in der ukrainischen Verfassung verankerte Ziel des Beitritts zur Nato und zur EU aufgegeben und einer „Finnlandisierung“ zugestimmt hätte, hätte das an seinen Plänen nichts geändert.
Wie wenig russische Sicherheitsgarantien und multilaterale Abkommen wert sind, wenn sie den Zielen einer revisionistischen Großmacht im Wege stehen, sieht man am Beispiel des Budapester Memorandums von 1994. Im Vertrauen auf die russischen, amerikanischen und britischen Zusagen hatte die Ukraine damals auf Nuklearwaffen verzichtet. Russland, die USA und das Vereinigte Königreich garantierten ihr dafür den Respekt ihrer Unabhängigkeit und Souveränität innerhalb der bestehenden Grenzen. Sobald sich Russland stark genug fühlte, seine imperiale Strategie wieder aufzunehmen, war das Memorandum nur noch ein wertloser Fetzen Papier.
Im April 2008 legten Angela Merkel und Nicolas Sarkozy auf dem Nato-Gipfel in Bukarest ihr Veto gegen den Vorschlag des amerikanischen Präsidenten George W. Bush ein, Georgien und die Ukraine zum Nato-Beitritt einzuladen. Den beiden Ländern wurde nur der Zugang zum Membership Action Plan (MAP) gewährt, der von ihnen Reformen sowie die Bereitschaft forderte, territoriale oder ethnische Konflikte zu lösen. Die Geschichte hätte einen anderen Lauf genommen, wenn sich die Nato damals für ihre rasche Integration entschieden hätte.Vier Monate nach dem Bukarester Gipfel, im August 2008, fielen russischen Truppen in Georgien ein. 2014 annektierte Putin die Krim und intervenierte in der Ostukraine. Gegenüber Nato-Ländern hätte er das mit ziemlicher Sicherheit nicht gewagt. Der Westen setzte auf Appeasement, was Putin als eine Schwäche interpretierte, die ihn zu weiteren Aggressionen ermunterte.
Diese Schwäche des Westens, die Putin sehr gut erkannt hat, ist im Grunde geistiger Natur. „Sketching the decline of the West around the time of World War I, Oswald Spengler may simply have been a hundred years too early“, glaubt Michael Kimmage. In einer berühmten Rede sagte Solschenizyn am 8. Juni 1978 in Harvard : „A decline in courage may be the most striking feature which an outside observer notices in the West in our days. The Western world has lost its civil courage, both as a whole and separately, in each country, each government, each political party, and, of course, in the United Nations.“
Solschenizyn hatte recht. Seine Rede legte die moralische Krise des Westens offen: „Destructive and irresponsible freedom has been granted boundless space. Society appears to have little defense against the abyss of human decadence, such as, for example, misuse of liberty for moral violence against young people, such as motion pictures full of pornography, crime, and horror. It is considered to be part of freedom and theoretically counterbalanced by the young people’s right not to look or not to accept. Life organized legalistically has thus shown its inability to defend itself against the corrosion of evil.“
Sätze dieser Art finden sich auch in Putins Reden. Darin liegt einer der Gründe seiner Popularität in manchen konservativen Kreisen, besonders in Amerika. „Is Putin One of Us?“, fragte Pat Buchanan 2013. Er verglich Putins „moralische Klarheit“ mit „America’s embrace of abortion on demand, homosexual marriage, pornography, promiscuity, and the whole panoply of Hollywood values“. Auch der russische Einmarsch in der Ukraine änderte nichts an Buchanans Sympathie für den russischen Diktator. Am 25. Februar schrieb er: „Putin is a Russian nationalist, patriot, traditionalist and a cold and ruthless realist looking out to preserve Russia as the great and respected power it once was and he believes it can be again. But it cannot be that if NATO expansion does not stop or if its sister state of Ukraine becomes part of a military alliance whose proudest boast is that it won the Cold War against the nation Putin has served all his life.“
Nicht nur Paläokonservative, auch Libertäre und religiöse motivierte Anti-Libertäre haben großes Verständnis für Putin und plädieren für Appeasement. Ihre Positionen unterscheiden sich kaum noch von denen der radikalen Linken. Das Jacobin Magazin veröffentlichte zum Beispiel einen Artikel unter dem Titel: „With Putin’s Ukraine Incursion, Hawks in Washington Got Exactly What They Wanted“.
Yuri Maltsev, ein russischer Ökonom der österreichischen Schule, der 1989 nach Amerika emigrierte, äußerte seine Wut auf Facebook so: „Many fake (very fake!) libertarians are on the side of Putin, KGB and national socialism. I would be happy to unfriend them right away and do not want to see them and talk with them again. Von Mises is from Ukraine (Galicia at his time) and he loved it and there are many libertarians in Ukraine, Russia and Belarus. And all of them are on the side of the Ukrainian people. Ukraine is a also a refuge for many of those who escaped from their coercive regimes. Enemy of my enemy is not necessarily my friend. Ezra Pound began with critique of FDR and ended… you know where as well as Knut Hamsun and Vidkun Jonssøn Quisling.“
Vladimir Putin geht ein gewaltiges Risiko ein. Die Propagandschlacht hat er bereits verloren. Russland ist international isoliert, die Reihen der westlichen Staaten schließen sich, und sogar notorische Putin-Verharmloser wie die deutschen Politiker setzen, wenigstens vorläufig, nicht länger auf einen deutsch-russischen Sonderweg. In den ersten Tagen haben die Ukrainer bewiesen, dass sie nicht kapitulieren, sondern den Kampf gegen den Aggressor führen. Sie wissen, dass sie für ihre Heimat kämpfen und sind bereit, für sie zu sterben. Aber wofür kämpfen die russischen Soldaten? Warum schießen sie auf ihre ukrainischen Brüder? Putin wird das ihnen und ihren Familien erklären müssen.
*Karl-Peter Schwarz graduierte an der Universität Wien in Geschichte und italienischer Literatur. Er arbeitete 35 Jahre für verschiedene Medien in Print, Hörfunk und Fernsehen, darunter Die Presse (Wien), ORF (Wien), Die Welt (Berlin), Die Woche (Hamburg) und Wirtschaftsblatt (Wien). Er war Auslandskorrespondent in Rom und in Prag. Von 2000 bis 2017 berichtete er für die Frankfurter Allgemeine Zeitung über politische Angelegenheiten in mehreren mittel- und südosteuropäischen Ländern. Er hat aktuell eine wöchentliche Kolumne in Die Presse und publiziert in mehreren deutschen Zeitungen.