Eine Lanze für die Philanthropie

von Hardy Bouillon

(erschienen in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, 5. August 2019)

Befürworter staatlicher Umverteilung begrüßen die Philanthropie, weil diese Wohlfahrtsaufgaben erfüllt, die dem Staat erspart bleiben. Aber sie glauben nicht, dass die Philanthropie den Sozialstaat ersetzen könnte oder gar sollte.

Hardy Bouillon
Hardy Bouillon

Ihre Haltung ruht vor allem auf zwei Einwänden: dem Unterversorgungseinwand und dem Diskriminierungseinwand. Der erste wiegt wohl am schwersten. Er behauptet, dass die freiwillige Umverteilung zu wohltätigen Zwecken weit hinter der verordneten Umverteilung zurückbliebe. Eine gewisse Anfangsplausibilität kann man dieser These nicht absprechen. Sie beruht auf dem sogenannten Gefangenendilemma, das die Entscheidungsnot zweier tatverdächtiger Komplizen schildert. Beide werden getrennt zur Tat verhört. Gesteht keiner, dann werden beide milde bestraft. Gestehen beide, fällt ihre Strafe hoch aus. Gesteht nur einer, geht der Geständige straffrei aus, während der Standhafte die Höchststrafe erhält. Die dominante Strategie für beide ist, getrennt „dicht zu halten“. Aber keiner der beiden wählt diese Strategie, weil jeder fürchtet, der andere könnte „singen“ und er wäre dann „der Dumme“. Auf den ersten Blick sieht es so aus, als ob das Gefangenendilemma auch für die Philanthropie gelten würde. D.h., die beste Lösung (hier: ausreichend großes Spendenvolumen) bleibt aus, weil jeder befürchtet, der „Dumme“ zu sein; also jener, der spendet, während die anderen nicht spenden.

Doch der erste Blick täuscht. Als Roosevelt 1933 den Universitäten die Mittel kürzte, fürchteten viele Umverteilungsbefürworter, dass auch Alumni und Sponsoren ihre Spenden reduzieren würden. Doch das Gegenteil trat ein! Zahl und Großzügigkeit der Spender nahmen zu, die Unterversorgung blieb aus. All dies lässt vermuten, dass der Unterversorgungseinwand das Gefangenendilemma zu Unrecht bemüht. Hinzu kommt, dass Steuergesellschaften die Möglichkeit bieten, Gefangenendilemmata zu entschärfen. Sind philanthropische Spenden steuerlich absetzbar, dann sinkt der Spendenpreis und schrumpft der Nachteil des Spenders gegenüber dem Nichtspender. Je höher die Abzugsmöglichkeiten, desto geringer der Nachteil. (Bei 100 Prozent wäre der Nachteil vollends aufgehoben.) Daher ist in Gesellschaften mit traditionell guten Abzugsmöglichkeiten die Philanthropie stärker ausgeprägt als andernorts. Wie Karl-Heinz Paqué schon in den 80ern für die USA zeigte, gilt dies auch, wenn neben steuerlichen Vorteilen kulturelle Besonderheiten ursächlich sind.

Auch das reale Spenderverhalten entschärft den Unterversorgungseinwand, wie ein Blick auf Sozialleistungsquote und Spenderquote zeigt. Die Sozialleistungsquote deutscher Steuerzahler – Anteil der individuellen Steuer, der in den Sozialhaushalt fließt – liegt derzeit bei ca. 30%. Die Spenderquote – Anteil der Spender unter allen Bürgern – beträgt momentan 40%. D. h., dass 40% der Bürger trotz einer 30prozentigen Sozialleistungsquote sich nicht davon abhalten lassen, zusätzlich für wohltätige Ziele zu spenden. (Sie spenden quasi „on top“.) Wem man unterstellen kann, dass er mit der Verwendung von 30% seiner Steuern für philanthropische Ziele einverstanden ist, wird man wohl auch unterstellen müssen, dass er seine individuelle Sozialleistungsquote für zu gering hält. Andernfalls würde er wohl kaum zusätzlich spenden. Und wie steht es mit den „On top“-Spendern, denen man keine Zustimmung zur individuellen Sozialleistungsquote zuschreiben kann? Vielleicht wird man ihnen unterstellen, Einwände zur staatlichen Auswahl oder zum Umfang der wohltätigen Zwecke zu haben; vielleicht auch, dass sie ihre Sozialleistungsquote, sofern sie diese einbehalten dürften, (zumindest teilweise) zu anderen als zu philanthropischen Zwecken verwenden würden; aber wohl kaum, dass sie im Falle der freien Verfügung über die eigene Sozialleistungsquote ihr philanthropisches Spendenverhalten gänzlich einstellen oder reduzieren würden.

Wer hat, der gibt, und wer mehr hat, der gibt mehr! Diese einfache Regel gilt auch unter Philanthropen, wie Befragungen ergeben. Folgt man dem Deutschen Spendenmonitor, dann lag 2017 die Spenderquote (von 4000 Befragten) im Westen der Republik höher als im Osten (44% vs.
28%), spendeten Rentner über 65 Jahren häufiger als junge Erwachsene zwischen 30 und 50 Jahren (54% vs. 36%), stieg die Spendenhöhe von 1995 bis 2007 von 78€ auf 143€ und das Spendenvolumen von 2,08% auf 3,71%. Befragungen lassen Erbschaften, Unternehmens-, Groß- und Parteispenden sowie Stiftungsgründungen und gerichtlich verordnete Geldzuwendungen meist außen vor. Kalkuliert man dergleichen ein, dann kommt man auf ein jährliches Spendenvolumen von 8 – 8,5 Milliarden €. Die Summe liegt nahe an dem, was sich aus den Steuerstatistiken ermitteln lässt. Für 2013 wurde für Spenden in Höhe von 6,8 Mrd. € die steuerliche Abzugsmöglichkeit geltend gemacht. (Vorträge in Höhe von 2,3 Mrd. € wären davon zu subtrahieren, steuerlich unberücksichtigte Barspenden zu addieren.)

Verglichen mit der Ermittlung des monetären Spendenvolumens ist die monetäre Erfassung von Zeitspenden weitaus schwieriger. Aber sie zeigt, dass philanthropisches Handeln ein viel größeres Ausmaß annimmt als philanthropisches Spenden. Folgt man dem Freiwilligensurvey, dann kamen 2014 9% aller Zeitspenden für gemeinwohlorientierte Zwecke dem Bereich Kultur zugute. Die Enquete-Kommission „Kultur in Deutschland” kam in ihrem Abschlussbericht zur Einschätzung, dass der monetarisierte Wert der Zeitspenden für kulturelle Zwecke im Jahr 2006 zwischen 9,3 und 16,7 Milliarden € betrug. Folgt man dieser Umrechnungsart, dann dürfte der monetarisierte Wert aller Zeitspenden für philanthropische Zwecke jährlich zwischen 100 und 185 Milliarden € betragen. Großzügigere Möglichkeiten, Zeitspenden steuerlich geltend zu machen, würden wohl eine Zunahme an Zeitspenden auslösen. Derzeit sind derlei Möglichkeiten kaum vorhanden und beschränken sich vornehmlich auf die Ehrenamtspauschale (720€ p. a.) und die Übungsleiterpauschale (2400€ p. a.).

Was derzeit jedoch für den Unterversorgungseinwand spricht, ist ein organisationsrechtlicher Umstand. Ein Großteil der Philanthropie findet im sogenannten Dritten Sektor statt, und zwar in Form von NPO (Non-Profit-Organisationen). NPO ist in Deutschland der Zugang zum Kapitalmarkt verwehrt und (wegen fehlender Sicherheiten) der Zugang zum Kreditmarkt erschwert. Damit sind ihnen und dem Dritten Sektor – der hierzulande mit 4,1% zur Bruttowertschöpfung beiträgt – wichtige Wachstumsoptionen genommen.

Auch der Diskriminierungseinwand hat eine gewisse Anfangsplausibilität. Der Grund ist offenkundig: Reduzierte man die staatliche Umverteilung zu wohltätigen Zwecken im Vertrauen auf potente Philanthropen, dann überließe man diesen die Entscheidung, Ziele, Mittel und Empfänger ihrer Wohltätigkeit selbst auszusuchen. Infolgedessen können die Entscheider diskriminieren, und zwar nach Kriterien, die sie selbst wählen. Der Diskriminierungseinwand übersieht jedoch mindestens zweierlei:

Erstens, sowohl private als auch staatliche Umverteilungen nehmen Diskriminierungen vor. Es ist nicht offensichtlich, warum staatliche Diskriminierungen im Wohltätigkeitssektor privaten Diskriminierungen überlegen sein sollten.

Zweitens, private Diskriminierungen finden bereits jetzt schon im Philanthropiesektor statt und bilden schlicht das ab, was der Madrider Ökonom Philipp Bagus den „Markt des Gebens“ nennt. Für diesen Markt ist – wie für andere Märkte auch – die Annahme naheliegend, dass er aus Effizienzgründen der staatlichen Umverteilung überlegen ist.


Eine gekürzte Version dieses Textes erschien am 5. August 2019 in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung.

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