Das Paradox des ewigen Fortschritts
400 Jahre ökonomische Ideengeschichte in Europa. Von Descartes über Menger und Boltzmann zu Hayek.
Werner Tabarelli
Noch um 1500 verkündete der Prediger Geiler von Kaysersberg den unveränderlichen Willen Gottes von den Kanzeln:
Friede macht Reichtum, Reichtum macht Übermut, Übermut bringt Krieg, Krieg bringt Armut, Armut macht Demut und Demut macht wieder Frieden.
An diesem Ablauf lasse sich nichts ändern. Niemand außer Gott war für irgendetwas verantwortlich! Ein Spielverderber war der Franzose René Descartes (1596-1650). Er zeigte 1637 in einer kleinen Schrift (Diskurs über die Methode; auch heute noch eine Pflichtlektüre!), wie man komplexe Vorgänge in begreifbare Einzelelemente zerlegen muss, um sie dann (womöglich heuristisch verbessert) wieder zusammenzusetzen. Dies war der Zündfunke für die abendländische Menschheit, um vermeintlich unabänderliche Abläufe zu verstehen und für sich nutzbar zu machen. Man war plötzlich in der Lage scheinbar zwangsläufig ablaufende Prozesse zum gesellschaftlichen und zum eigenen Nutzen ändern. — Erstmals in der Geschichte war jeder seines eigenen Glückes Schmied!
Descartes Erkenntnis, die von der Universität Utrecht 1644 alsglaubensfeindlich verurteilt worden war (ein Verdammnis, dasman dort erst am 23. März 2005 feierlich widerrufen hat) lösteeine mehrhundertjährige geistes-, kultur-, industrie- und wirtschaftsgeschichtliche Revolution aus.
Unglücklicherweise hörte zwar das Kriegstreiben in der Welt damit nicht auf. Aber der enorme Wirtschaftsaufschwung im Abendland führte nach einer OECD-Studie dennoch in den letzten 200 Jahren zu einer Verzehnfachung des Lebensstandards.
Dies erregte gegen Ende des 19. Jahrhunderts die Aufmerksamkeit von Carl Menger (1840 – 1921). Ausgehend von der Tatsache der Knappheit der Güter, die natürlich nicht an alle gleichermaßen, aber aufgrund der subjektiven Werturteile bestmöglich unter den Menschen verteilt werden können, erklärt er die Möglichkeit andauernder wirtschaftlicher Blütezeiten (zumindest a prima vista). Menger wurde damit zum Urvater der Österreichischen Schule der Nationalökonomie. Er befürchtete jedoch zu Recht selbstsüchtige Eingriffe in seine natürliche Wirtschaftsentwicklung. Die Gesellschaft müsse deshalb „gegen allfällige Gewaltthätigkeiten anderer Individuen geschützt werden.“ (Grundsätze, 1871; S. 56)
Die Bedrohungen für den ewigen Aufschwung
Zeitgleich mit Menger lehrte der fünfmal für den Nobelpreis vorgeschlagene Physiker Ludwig Boltzmann (1844 – 1906) an der Universität Wien. Im Prinzip stimmt er mit Mengers Auffassungen überein — wenngleich mit anderen Begrifflichkeiten. Wo Menger von subjektiven Werturteilen spricht, sagt Boltzmann „das für uns Zuträgliche“ oder das für das Überleben des Individuums und der Gesellschaft Förderliche. (Populäre Schriften, 1905; S. 396, 369).
Aber nicht nur Eingriffe der Macht seien eine Bedrohung. Vielmehr entwerte auch die Entropie im Laufe der Zeit alle Energie. Für Menger ist das eine sachfremde Betrachtungsweise. Die beiden haben sich zweifellos persönlich gekannt, aber nie gefunden.
Was ist Entropie?
Um 1860 bewies der deutsche Physiker Rudolf Clausius, dass beispielsweise ein heißer Kohleofen in einem kalten Zimmer so lange seine Wärme abgeben muss, bis Ofen und Zimmer dieselbe Temperatur haben. Das gilt für alle Konzentrationen von Energie: — alte Häuser verfallen, wenn man sie nicht unterhält, Autoreifen nützen sich ab. Clausius erfand als Maß für diese Energieentwertung den Kunstnamen Entropie und es war Boltzmanns Verdienst, den Entropie-Begriff physikalisch exakt gefasst zu haben.
Angesichts der allgegenwärtigen Entropie ringt aber schon Boltzmann mit dem Phänomen der physikalisch nicht messbaren Energie. Im Zusammenhang mit dem „Kampf ums Dasein“ macht er etwa auf das energische Zusannenwirken von Zellen aufmerksam. (ib. 1905; S. 365, 369). Heute hingegen ist die soziale Entropie ein in der modernen Soziologie nicht wegzudenkender Fachbegriff.
Das eröffnet sehr weitgehende, auch wirtschaftstheoretische Perspektiven: Zerfiel das römische Reich etwa, weil es nicht mehr die Energie aufbrachte, sich zu verteidigen? Weiterhin: Ist es wirklich so absurd, wenn Reinhard May singt, sogar „die Freiheit nutzt sich ab, wenn Du sie nicht nutzt“ ? Und wie ist es mit dem Auf und Ab in der Wirtschaft? Die Statistiken zeigen, dass das Wachstum in den westlichen Industrieländern seit Jahrzehnten abnimmt.
Das Geheimnis der Evolution
Logik und Evidenz zeigen allerdings, dass vor und entgegen der Entropie Wachstum möglich ist — ebenjenes Wachstum, das allem Verfall vorangegangen sein muss, weil es ja ansonsten jene Energie nicht gäbe, die sich entwerten könnte. Schon die ersten Verse der biblischen Schöpfungsgeschichte fassen dieses Wunder der Evolution staunend in Worte.
Damit sind wir aber wieder bei Menger angelangt, der von der (seitens Intellektueller heute oft belächelten) Voraussetzung ausging, dass stetiger Fortschritt ein Wesensmerkmal der Evolution sei, — in der Biologie wie auch in der Wirtschaft. Seine Schlussfolgerung daraus: Eine andauernde Zunahme des Wohlstandes der Menschen ist möglich!
Allerdings nur mit einer ganz wesentlichen Einschränkung: Nämlich nur dann, wenn nicht, wie meistens in der Geschichte, allfällige Gewalttätigkeiten von vornherein festlegen, wer Nutznießer des Fortschritts und wer der „Loser“ sein wird.
Diese Frage müsse vielmehr durch stabile, unparteiische Einrichtungen wie Rechtsordnung, Markt oder Geld entschieden wer- den, die erfahrungsgemäß das „unbeabsichtigte Resultat gesellschaftlicher Entwicklungen“ sind. (Untersuchungen 1883, S. 145).
Der Nobelpreisträger Friedrich A. von Hayek (1899 – 1992) nennt diese gesamtgesellschaftlich ungemein nützlichen Erscheinungen (zwar nicht als Erster, aber wohl als Prominentester) spontane Ordnungen. Er ist viele Jahre lang der Frage nachgegangen, wie sich in einer Gesellschaft von Menschen, die einander nie begegnet sind und ohne ausdrücklichen Befehl von oben jemals Ordnungen bilden konnten, die — so wie beim Schachspiel — auf Regeln beruhen, die für alle gleichermaßen gelten, ohne aber festzulegen, wer Gewinner und wer Verlierer sein wird.
Hayek griff dabei auf Einsichten Bernard Mandevilles (1670 – 1733) zurück: Die betreffenden Regeln seien mit der Zeit in der Praxis aus individuellen Bestrebungen entstanden, die „so zugerichtet wurden, dass sie Zielen dienen, die zwar nie bewusst deklariert worden sind, sich aber dennoch verfestigt haben, weil sie sich als erfolgreich für das Überleben erwiesen haben.“ (Hayek, 1978; S. 253.) Das erinnert an die Bemerkungen von Boltzmann: Die ewige Aufgabe jeder Gesellschaft bleibt es, energisch, das heißt mit äußerstem Einsatz von moralischer, geistiger, präzise wissenschaftlicher und politischer Energie sicherzustellen, dass diese einmal entstandenen, höchst wirkungsvollen Spielregeln, nämlich die erwähnten spontanen Ordnungen, vor „allfälligen Gewaltthätigkeiten“, wie Menger es ausdrückte, geschützt und nicht zugunsten einzelner Privilegierter geändert werden.
Dies ist die Kernaussage in Hayeks Opus magnum Die Verfassung der Freiheit, erschienen erstmals in Englisch 1960, vor genau 65 Jahren!
Literatur:
René Descartes, Discours de la méthode pour bien conduire sa raison et chercher la vérité dans les sciences. Anonym, Leiden 1637. (Erste deutsche Übersetzung 1687. Zahlreiche Nachdrucke u. a. mit dem Titel: Abhandlung über die Methode ….bis 2023.)
Ludwig Boltzmann, Populäre Schriften, Leipzig 1905.
Friedrich A. von Hayek, The Constitution of Liberty. Routledge and Kegan Paul, London 1960. Deutsch: Die Verfassung der Freiheit. Tübingen 2005.
Ders. New Studies in Philosophy, Politics, Economics and the History of Ideas. Routledge and Kegan Paul, London 1978.
Carl Menger, Grundsätze der Volkswirtschaftslehre, Wien 1871.
Ders. Untersuchungen über die Methode der Socialwissenschaften und dern politischen Oekonomie insbesondere, Wien 1883.