Das Statut der Europäischen Zentralbank – Garant für einen stabilen Euro?
1. Der steinige Weg zur Europäischen Wirtschafts- und Währungsunion
Das Verlangen nach einer einheitlichen Währung in Europa reicht weit in die Geschichte zurück. Es ist hier nicht der Ort, diese Bemühungen und deren Scheitern nachzuzeichnen. Mit der Gründung der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft und der Verwirklichung des Gemeinsamen Marktes verstärkte sich der Wunsch, diese Entwicklung durch die Einführung eines einheitlichen Geldes zu vollenden. In dieser Absicht kamen die Staats- und Regierungschefs auf ihrer Konferenz am 1. und 2. Dezember 1969 in Den Haag überein, einen entsprechenden Plan in Auftrag zu geben. Nach dem ein Jahr später vorgelegten Werner-Plan sollte eine Wirtschafts-und Währungsunion in Stufen innerhalb von zehn Jahren vollendet sein.1
Dieses ehrgeizige Vorhaben war angesichts einer Abfolge von Währungskrisen von Anfang an zum Scheitern verurteilt. Zwar hatte man erstmals die notwendigen institutionellen und wirtschaftspolitischen Bedingungen für ein erfolgreiches Vorgehen erkannt, doch blieben die Vorstellungen viel zu vage. Gleichzeitig waren die Lehren aus diesem Misserfolg von entscheidender Bedeutung für den weiteren Fortgang.
Nach Jahren der Krise markierte das 1978 beschlossene Europäische Währungssystem (EWS) einen wichtigen Schritt in Richtung Währungsunion. In diesem eindeutig politisch motivierten Akt offenbarte sich einerseits die “monetaristische Position”. Diese wurde vor allem von Frankreich vertreten. Im Kern steht dahinter die Auffassung: Sind erst einmal die Wechselkurse fixiert, wird die weitere Konvergenz dadurch quasi erzwungen. Andererseits bestätigte sich in einer Folge von Auf- und Abwertungen die “ökonomistische Auffassung”. Dieser hingen in Deutschland die meisten Ökonomen an. Danach erzeugt die vorzeitige Festlegung der Wechselkurse unvermeidlichen Spannungen, die immer wieder Wechselkursanpassungen erzwingen. Ohne eine einheitliche Geldpolitik und ökonomische Konvergenz kann Stabilität der Wechselkurse auf Dauer nicht erreicht werden.
Die Erfahrungen dieser Jahre bestätigten die These vom “uneasy triangle”, nach dem von den drei Zielen, Wechselkursstabilität, Preisstabilität bzw. nationale geldpolitische Autonomie sowie freier Kapitalverkehr immer nur zwei gleichzeitig erreichbar sind.
In dieser schwierigen Lage brachten neue Initiativen vor allem von Seiten Frankreichs Bewegung in die festgefahrene Lage. In Deutschland war es Außenminister Genscher, der sich gegen das an sich zuständige Finanzministerium durchsetzte. Eine Rolle spielte auch die mit dem Fall der Mauer und des Eisernen Vorhangs dramatisch geänderte politische Situation. Der Verzicht auf die D-Mark war zwar nicht, wie oft behauptet, der Preis für die Zustimmung der Partner zur Wiedervereinigung, doch trug dieses Ereignis nicht unwesentlich dazu bei, den beträchtlichen Widerstand in Deutschland zu schwächen, zumal Bundeskanzler Kohl aus politischen Gründen als Befürworter galt.2
2. Der Vertrag von Maastricht
Nach den langen Jahren vergeblichen Bemühens kam dann die Entscheidung überraschend schnell. Auf dem Gipfel von Maastricht vom 9./10. Dezember 1991 beschlossen die Staats- und Regierungschefs eine Wirtschafts-und Währungsunion. Der Vertrag von Maastricht trat nach der Ratifizierung durch alle Parlamente am 1. November 1993 in Kraft. In Frankreich ging ein Referendum voraus, dass mit einer nur knappen Mehrheit den Weg dafür freigemachte. Wie im Werner-Plan sollte der Prozess in Stufen ablaufen. Das Europäische Währungsinstitut (EWI) wurde zum Beginn der zweiten Stufe gegründet. Es sollte den Übergang zur gemeinsamen Währung organisieren, erhielt aber keinerlei geld- oder währungspolitische Kompetenzen. Als spätester Termin für die dritte Stufe, und damit für die Einführung einer gemeinsamen Währung, wurde auf dem Gipfel von Madrid 1995 der 1. Januar 1999 sowie der Name Euro beschlossen. Am 31. Dezember 1998 wurden die Wechselkurse zwischen dem Euro und den Währungen der Beitrittsländer endgültig festgelegt. Die Europäische Zentralbank (EZB) wurde bereits ein halbes Jahr vorher zum 1. Juni 1998 errichtet.
3. Das Statut der EZB
Im Zentrum des Maastricht-Vertrages steht das Statut der Zentralbank. Das Europäische System der Zentralbanken (ESZB) besteht aus der Europäischen Zentralbank und den Zentralbanken der Mitgliedstaaten (nationale Zentralbanken).3 Im Statut werden die Aufgaben definiert, die Organisation – Direktorium und Rat – und weitere wichtige administrative Fragen geklärt. Diese sind durchweg auch von geldpolitischer Relevanz, sollen hier aber nicht weiter behandelt werden.
Im Mittelpunkt steht hier die Geldpolitik, einheitlich für den Euroraum. “One size has to fit all”.
Die Geldpolitik der EZB steht rechtlich auf drei Pfeilern:
– Verbot der monetären Finanzierung
– Unabhängigkeit der Notenbank
– Vorrang für die Preisstabilität
a. Verbot der monetären Finanzierung
Der Vertrag verbietet der EZB die Kreditvergabe an die öffentliche Hand und den unmittelbaren Erwerb von öffentlichen Schuldentiteln. Diese Bestimmung spiegelt die geschichtlichen Erfahrungen wider. Alle Hyperinflationen sind auf den Missbrauch der Notenpresse durch den Staat zurückzuführen. Der häufigste Fall liegt in der Finanzierung von Kriegen, direkt oder indirekt durch Kredite der Notenbank. Von diesen Extremfällen abgesehen, soll das Verbot der monetären Finanzierung grundsätzlich die Möglichkeit eines finanzpolitisch bedingten inflationären Prozesses ausschließen.
b. Unabhängigkeit der Notenbank
„Bei der Wahrnehmung der ihnen durch diesen Vertrag und die Satzung des ESZB übertragenen Befugnisse, Aufgaben und Pflichten darf weder die EZB noch eine nationale Zentralbank noch ein Mitglied ihrer Beschlussorgane Weisungen von Organen oder Einrichtungen der Gemeinschaft, Regierungen der Mitgliedstaaten oder anderen Stellen einholen oder entgegennehmen. Die Organe und Einrichtungen der Gemeinschaft sowie die Regierungen der Mitgliedstaaten verpflichten sich, diesen Grundsatz zu beachten und nicht zu versuchen, die Mitglieder der Beschlussorgane der EZB oder der nationalen Zentralbanken bei der Wahrnehmung ihrer Aufgaben zu beeinflussen.
Jeder Mitgliedstaat stellt sicher, dass spätestens zum Zeitpunkt der Errichtung des ESZB seine innerstaatlichen Rechtsvorschriften einschließlich der Satzung seiner Zentralbank mit diesem Vertrag sowie mit der Satzung des ESZB im Einklang stehen.”
Die Einigung der Mitgliedstaaten, der künftigen Europäischen Zentralbank den Status der Unabhängigkeit zu verleihen, war alles andere als selbstverständlich. Schließlich war bis dahin nur die Deutsche Bundesbank völlig unabhängig, alle anderen Notenbanken in Europa waren mehr oder weniger den Entscheidungen ihrer Regierungen unterworfen.
Zwei Gründe spielten für den Entscheid eine wichtige Rolle. Unabhängigkeit der Notenbank war über Jahrzehnte kein Thema, das in der Öffentlichkeit – außer in Deutschland – ebenso wie in der Wissenschaft ernsthaft diskutiert wurde. Das änderte sich erst als im Nachgang der “Großen Inflation” der 1970er Jahre die Frage diskutiert wurde, welche Ursachen für diesen starken Preisanstieg verantwortlich zu machen waren. Eine erste Studie stellte einen Zusammenhang her zwischen der Unabhängigkeit der Notenbank und der Höhe der Inflation.4
In rascher Folge erschienen dann zahlreiche empirische Arbeiten, die ein eindeutiges Ergebnis für einen inversen Zusammenhang zwischen dem Grad der Unabhängigkeit der Notenbank und der Höhe der Inflation ergaben.5
In dieses Bild passt auch der Befund, dass Deutschland dank der Geldpolitik der unabhängigen Bundesbank nicht von der Großen Inflation erfasst wurde.6
Der zweite Faktor war das erfolgreiche Beispiel der Deutschen Bundesbank und der in der Welt – neben der Schweiz – hervorragenden Stabilität ihrer Währung, der D-Mark. Vermutlich hätte es bei dem hohen Ansehen der deutschen Notenbank in der Bevölkerung kein führender Politiker gewagt, einem Vertrag zuzustimmen, der nicht die entscheidenden Elemente des Statuts der Bundesbank auf die EZB übertragen hätte. Im Übrigen verliehen im gleichen Zeitraum zahlreiche Länder in der Welt ihrer Notenbank die Unabhängigkeit.
c. Vorrang für die Preisstabilität
Ein Gesetzgeber, der der Notenbank den Status der Unabhängigkeit verleiht, kann das Ziel der Geldpolitik nicht offenlassen. Entsprechend ist im Statut der EZB festgelegt:
„Das vorrangige Ziel des ESZB ist es, die Preisstabilität zu gewährleisten. Soweit dies ohne Beeinträchtigung des Zieles der Preisstabilität möglich ist, unterstützt das ESZB die allgemeine Wirtschaftspolitik in der Gemeinschaft, um zur Verwirklichung der in Artikel 2 festgelegten Ziele der Gemeinschaft beizutragen. Das ESZB handelt im Einklang mit dem Grundsatz einer offenen Marktwirtschaft mit freiem Wettbewerb, wodurch ein effizienter Einsatz der Ressourcen gefördert wird, und hält sich dabei an die in Artikel 4 genannten Grundsätze.”
Es liegt auf der Hand: die wichtigste, die genuine Aufgabe der Notenbank ist die Erhaltung der Stabilität ihres Geldes. Im Bundesbankgesetz war das Ziel als “Sicherung der Währung” definiert. Aus den Debatten im Deutschen Bundestag geht hervor, dass der Gesetzgeber damit die Sicherung des “inneren und äußeren” Wertes der D-Mark im Sinne hatte. Es bedarf nicht der weiteren Erklärung, dass in einem inflationären (oder auch deflationären) internationalen Umwelt Preisstabilität und Wechselkursstabilität nicht miteinander vereinbar sind. Die Notenbank kann nicht gleichzeitig die Preisentwicklung und den Wechselkurs stabil halten. Die Bundesbank benötigte im Übrigen selbst einige Zeit, bis sie dieses Dilemma erkannte und sich dann für Aufwertungen der D-Mark einsetzte, um der Gefahr der importierten Inflation entgegenzuwirken. Es gelang ihr schließlich, den widersprüchlichen Willen des Gesetzgebers vergessen zu machen und den Auftrag „Sicherung der Währung“ mit „Erhaltung der Preisstabilität“ gleichzusetzen. Anders als etwa für die amerikanische Notenbank mit dem dualen Ziel – Preisstabilität und damit gleichrangig maximale Beschäftigung7 – hat für die EZB Preisstabilität den absoluten Vorrang.
Der erwähnte Artikel 2 des EU-Vertrages enthält im Übrigen eine umfangreiche Liste von sehr unterschiedlichen Zielen, was unvermeidlich zu Kontroversen führen muss.
4. Das Statut in der Bewährung
Gemessen an der Preisentwicklung in den ersten 20 Jahren hat der Euro das Versprechen stabilen Geldes erfüllt und sich das Statut insoweit bewährt. Nachdem sich nach Jahren massiver Anleihekäufe, dem sog. Quantitative Easing, und extrem niedrigen Zinsen ein Ende der Preisstabilität abgezeichnet hatte, schnellte die Inflation nach dem Ausbruch des russischen Ankriffskrieges gegen die Ukraine und der damit verbundenen Energiekrise die Inflation in den zweistelligen Bereich. Die Rückführung der Inflation auf die angestrebte Zielgröße von 2% stellt die EZB vor eine große Herausforderung.
Von der aktuellen Situation abgesehen, zeigen eine Reihe struktureller Faktoren, dass das Statut allein nicht dauerhaft Preisstabilität garantieren kann. Dieses Problem wird im Folgenden näher analysiert.
a. Einfallstor Ernennung der Führung?
Mit einem klaren Mandat und der Unabhängigkeit genießt die EZB rechtlich gesehen die denkbar stärkste Stellung. Während etwa das Gesetz über die Deutsche Bundesbank jederzeit mit einer einfachen Mehrheit im Bundestag hätte geändert werden können, ist das Statut der EZB in einem völkerrechtlichen Vertrag verankert, der nur mit der Zustimmung aller Mitgliedsländer geändert werden kann. In einigen Ländern wärem dafür nicht nur ein Beschluss des Parlaments, sondern auch die direkte Zustimmung der Bürger in einem Referendum erforderlich.
In der Endphase über die Einigung in Maastricht ging die Frage unter, in welchem Maße die Zustimmung zur Verleihung der Unabhängigkeit an die künftige Europäische Notenbank der wirklichen Überzeugung in allen Mitgliedsstaaten entsprach. Schließlich hatte – wie schon erwähnt – vorher außer Deutschland kein Land der nationalen Notenbank diesen Status eingeräumt. Einige Mitgliedstaaten standen diesem Prinzip äußerst kritisch gegenüber. Selbst nach der Unterzeichnung des Maastricht-Vertrages durch die Finanzminister machte der französische Staatspräsident Mitterrand aus seiner Ablehnung kein Hehl.
“La Banque Centrale, la future Banque Centrale … elle ne décide pas. …Les techniciens de la Banque Centrale sont chargés d’appliquer dans la domaine monétaire les décisions du Conseil Européen, prises par les douze Chefs d’Etat et de Gouvernement, c’est-à-dire par les politiques qui représentent leurs peuples … Or, j’entends dire partout … que cette Banque Centrale Européenne sera maîtresse des décisions! Ce n’est pas vrai! La politique monétaire appartient au Conseil Européen et l’application de la politique monétaire appartient à la Banque Centrale, dans le cadre des desisions du Conseil Européen.”
Der Status der Unabhängigkeit eröffnet den Führungskräften, also den Mitgliedern des Entscheidungsgremiums, einen großen Freiheitsspielraum8, “nur” eingeschränkt durch das vom Gesetzgeber vorgegebenen Ziel, im Falle der EZB also dem Vorrang für die Preisstabilität. Leider ist es bis heute nicht gelungen eine überzeugende Lösung für einen “Automatismus” im Papierstandard zu finden. Die Ernennung für eine Amtszeit von acht Jahren und das Verbot der Wiederernennung für die Mitglieder des Direktoriums soll möglichen Bedenken Rechnung tragen. Damit bleibt aber offen, inwieweit die zu ernennenden Personen sich dem Erhalt der Preisstabilität aus innerer Überzeugung verpflichtet fühlen. Kenneth Rogoff hat mit Blick auf dieses Problem vorgeschlagen, “konservative Notenbanker” zu berufen, also Personen, deren Priorität für die Geldwertstabilität über dem des Durchschnitts der Bürger liegt.9
Selbst wenn sich die zuständigen politischen Instanzen auf dieses Prinzip einigen würden, wäre die Idee nur schwer in die Praxis umzusetzen. Ganz davon abgesehen, dass die gewählte Person ihre Einstellung nach der Einführung im Amt ändern könnte. Die Bestimmungen des Vertrags bleiben in diesem Punkt nicht überraschend sehr vage. “… der Präsident, der Vizepräsident und die weiteren Mitglieder des Direktoriums (werden) von den Regierungen der Mitgliedstaaten auf der Ebene des Staats- und Regierungschefs auf Empfehlung des Rates, der hierzu das Europäische Parlament und den EZB-Rat anhört, aus dem Kreis der in Währungs- oder Bankfragen anerkannten und erfahrenen Persönlichkeiten einvernehmlich ausgewählt und ernannt.”
Inwieweit bei der Auswahl Personen mit besonderem Stabilitätsbewusstsein berücksichtigt werden, hängt ganz offensichtlich von dem Gewicht ab, das die Staats- und Regierungschefs in der komplexen Gremienlage u.a. von nationalen Interessen diesem an sich entscheidenden Faktor beimessen.
Mit der Erhöhung der Zahl der Mitgliedstaaten der Währungsunion hat das Übergewicht der nationalen Notenbankgouverneure im Rat noch weiter zugenommen. Die Präsidentin der EZB nimmt eine Führungsrolle ein. Damit spielt ihre Überzeugung eine wesentliche Rolle. Am Übergewicht der nationalen Gouverneure ändert das jedoch nichts. Gerade in einem so großen und sehr heterogenen Gremium kommt es entscheidend auf den Grad der Gemeinsamkeit im Stabilitätsbewusstsein an. Je stärker dieses verankert ist, desto ausgeprägter mag der von mir einmal so bezeichnete “Beckett- Effekt” wirken.10
Diese Gemeinsamkeit in der Überzeugung, Priorität für die Preisstabilität zu praktizieren, stellt sich umso mehr ein, je klarer die Geldpolitik auf dieses Ziel fokussiert ist – und je weniger andere Ziele, vor allem solche mit politischem Konfliktpotenzial eine Rolle spielen. Eine Institution wie die EZB muss auf rechtlich sicherem Boden stehen. Ihr Erfolg hängt aber entscheidend von den Führungspersonen ab. “Institutionen sind wie Festungen, sie müssen wohlgeplant und wohlbemannt sein.11
b. Die Flanke Finanzpolitik
Gute Geldpolitik allein kann nicht makroökonomische Stabilität garantieren. Genauso wichtig ist eine entsprechend ausgerichtete Finanzpolitik. In den Verhandlungen zur Europäischen Währungsunion wurde das spezifische Problem eines Währungsraumes mit zahlreichen souveränen Mitgliedstaaten zunehmend erkannt. Ohne eine voll ausgeprägte Politische Union bleibt die Hoheit über die Finanzpolitik, über Steuern und öffentliche Ausgaben, grundsätzlich bei den nationalen Regierungen und Parlamenten. Im Maastricht-Vertrag selbst wurden Grenzen (60 bzw. 3 Prozent) für die Höhe der öffentlichen Schulden bzw. Defizite festgelegt. Vor allem auf Drängen der deutschen Seite hat man mit dem Stabilitäts- und Wachstumspakt versucht, die nationale Finanzpolitik durch eine europäische Aufsicht zu disziplinieren.12
Der entscheidende Schwachpunkt dieses Arrangements liegt in Folgendem: Im Rat entscheiden potenzielle Sünder über aktuelle Sünder. Sehr bald, im Jahre 2003 wurde diese Warnung bestätigt, als Deutschland und Frankreich gegen die Regeln des Paktes verstießen – und es nicht zu den vorgesehenen Sanktionen kam. (Inzwischen ist es zu weit über 100 Verstößen gekommen.) Seitdem wurde der Pakt mehrfach geändert und im Kern immer weiter geschwächt. Die Kommission hat in der Rolle als Hüter der Verträge krass versagt. Wie wenig sie selbst den Anschein der Vertragstreue wahrt, geht aus einer Äußerung des damaligen Kommissionspräsidenten Juncker hervor. Gefragt, warum die Kommission den mehrfachen Verstoß Frankreichs gegen die 3 % Regel einfach hinnimmt, gab er die Antwort: Weil es Frankreich ist.
Mit der weitgehend unkontrollierten, an nationalen Interessen orientierten Finanzpolitik vieler Länder musste es zu Spannungen mit einer auf Stabilität ausgerichteten Geldpolitik kommen. Diese entluden sich vor allem in den Krisen ab 2010, als ein starkes Ansteigen der Spreads für Anleihen einiger hochverschuldeten Länder selbst die Existenz des Euroraums in der damaligen Zusammensetzung in Frage stellte. Zur Stabilisierung der Finanzmärkte, genauer zur Reduzierung der Spreads, kaufte die EZB im Mai 2010 gezielt, also selektiv in großem Ausmaß Staatsanleihen der bedrohten Mitgliedstaaten auf. Im Juni 2012 gab EZB-Präsident Draghi mit seinem “whatever it takes” de facto eine Garantie für den Zusammenhalt der Währungsunion ab. Das angekündigte OMT- Programm musste bis heute nicht eingesetzt werden, die Märkte wurden alleine durch die Ankündigung gegebenenfalls massiver Interventionen der EZB am Anleihenmarkt beruhigt. In den erwartbaren Klagen vor dem Europäischen Gerichtshof und dem Bundesverfassungsgericht wurde klar, dass das Verbot der monetären Finanzierung (und des Ankaufs von Anleihen am Primärmarkt) im Statut der EZB keinen hinreichenden Schutz vor den Folgen einer defizitären Finanzpolitik von Mitgliedstaaten bietet.
Als im Sommer 2022 die Spreads erneut – keineswegs extrem – anstiegen, kündigte die EZB panikartig mit dem Transmission Protection Programm (TPI) ein Programm an, das den gleichen Zweck wie das OMT verfolgt, aber weit schwächere Bedingungen für den Einsatz vorgibt.13
Diese beiden Programme machen deutlich, dass die EZB damit eine politische Rolle, nämlich den Zusammenhalt der Währungsunion in der gegenwärtigen Zusammensetzung zu garantieren, übernimmt, die den nationalen Regierungen und Parlamenten vorbehalten sein muss.
Die Sorge um die finanzpolitische Situation in den hoch verschuldeten Mitgliedstaaten kann nicht ohne Einfluss auf die Geldpolitik der EZB bleiben. Die massive Ausweitung der Programme zum Ankauf von – vor allem – Staatsanleihen (APP und PEPP) und die trotz deutlich verbesserter wirtschaftlicher Lage und drohender Inflationsgefahren viel zu lange Dauer sind letztlich auch mit der Rücksicht auf die prekäre Situation der Märkte für Anleihen hochverschuldeter Mitgliedstaaten zu erklären.
Das Statut der Notenbank kann nur die Unabhängigkeit der Notenbank rechtlich garantieren. Während also de jure sich nichts geändert hat, verletzt die Notenbank durch ihr Verhalten de facto das Prinzip der Unabhängigkeit.Längst sind die Anzeichen “fiskalischer Dominanz” nicht mehr zu übersehen. Wenn die EZB ihre geldpolitischen Entscheidungen auch – oder sogar vorrangig? – mit der Rücksicht auf die prekäre Lage der hoch verschuldeten Mitgliedstaaten trifft, gerät das primäre Ziel der Preisstabilität in den Hintergrund.
c. Multiple Ziele – Grüne Geldpolitik?
Nach vielen Jahren niedriger Inflation und hoher Beschäftigung – der Periode der “Great Moderation”- und insbesondere nach der Rettung der Welt vor dem Absturz in eine Depression in den Ausmaßen der Weltwirtschaftskrise der 1930er Jahre, erreichte die Reputation der Notenbanken ihren Höhepunkt. Als nicht überraschende Konsequenz stiegen Ansprüche an deren Politik.
Gerade nach der Finanzmarktkrise 2007/8 galt das Hauptaugenmerk der Erhaltung der Finanzstabilität. Die Diskussion um das Verhältnis makroprudenzieller Maßnahmen und der Geldpolitik hat noch kein abschließendes Ergebnis gebracht. Jedenfalls resultieren aus dieser Aufgabe, der sich auch die EZB nicht entziehen kann, schwierige Fragen und nicht zuletzt mögliche Konflikte mit dem vorrangigen Ziel der Preisstabilität.14
Seitdem der Klimawandel als eine die Menschheit bedrohende Krise eingeschätzt wird, haben sich die Erwartungen auch auf die Notenbanken gerichtet, einen Beitrag zur Bekämpfung dieser Gefahren zu leisten. Einige prominente Notenbanker, zuerst der damalige Gouverneur der Bank of England Mark Carney und mit dem Amtsantritt EZB-Präsidentin Christine Lagarde, haben den Klimaschutz zu einem wichtigen Ziel der Notenbankpolitik erklärt.
Die Auseinandersetzung um den möglichen Beitrag der Notenbanken ist im vollen Gange.15 Es ist hier nicht der Ort auf die Probleme, das Für und Wider, näher einzugehen. Gegen eine wie immer geartete “Grüne Geldpolitik” lassen sich jedenfalls erhebliche Vorbehalte anführen.16 Je mehr aber eine Notenbank den Klimaschutz zu einem wichtigen Ziel erklärt und je weniger es ihr gelingt, gelingen kann, dieses “Versprechen” einzulösen, desto mehr schadet das ihrer Glaubwürdigkeit, zumal Konflikte mit dem genuinen Ziel der Preisstabilität zu erwarten sind.
5. Fazit
Mit dem Maastricht-Vertrag wurde für die EZB ein Statut geschaffen, dass in jeder Hinsicht als “state of the art” gelten kann. Ein klares Ziel – Vorrang für die Preisstabilität, Unabhängigkeit von politischem Einfluss und das Verbot der monetären Finanzierung – bildlich gesprochen – als Schutz gegen den Zugriff des Staates auf die Notenpresse. Nachdem dieses Statut in einen völkerrechtlichen Vertrag eingebettet ist und nur einstimmig geändert werden kann, ist die maximal denkbare rechtliche Bestandsgarantie gewährleistet.
Auf der Basis ihres Statuts konnte die EZB mit ihrer Geldpolitik den Euro als stabile Währung etablieren. In den ersten 20 Jahren war die jahresdurchnittliche Inflationsrate mit unter 2% niedriger als die 2,8% für die D-Mark in den 50 Jahren ihrer Existenz, wenngleich diese Phase von weltweit niedrigen Inflationsraten gekennzeichnet war. Die aktuell hohe Inflation stellt die EZB auf die Bewährungsprobe.
Auch eine derart unabhängige Notenbank wie die EZB steht jedoch nicht außerhalb der Gesellschaft. Ihr Ansehen hängt von ihrer Politik und deren Akzeptanz in der Öffentlichkeit ab. Die Unabhängigkeit muss rechtlich garantiert sein, sie bedarf aber auch der Unterstützung durch die öffentliche Meinung.
In einer Demokratie bedarf es der Begründung (und der breiten Akzeptanz), der Unabhängigkeit einer Institution, mit der Kompetenz für einen so wichtigen Teil der ökonomischen Politik. Die Unabhängigkeit lässt sich demokratietheoretisch nur rechtfertigen, wenn sie mit einem klaren und auf das vorgegebene Ziel eingeschränkten Mandat verbunden ist. Wie die vorangegangenen Überlegungen zeigen, geht die größte Gefahr für die Unabhängigkeit von der Notenbank selbst aus.
Je mehr sich die EZB mit ihren Handlungen in den der allgemeinen Politik vorbehaltenen Raum begibt, desto mehr gefährdet sie die Zustimmung zu ihrer Unabhängigkeit. Die Notenbank sollte sich nicht zuletzt davor hüten, mehr zu versprechen als sie mit ihrer Geldpolitik zu leisten vermag. Die Klimapolitik ist dafür ein gutes Beispiel. Drängen Stimmen in der Öffentlichkeit auf einen Beitrag der Geldpolitik, muss die EZB erklären, welchen am Ende nur sehr beschränkten Beitrag sie leisten kann. Der Kommunikation fällt in diesem Zusammenhang eine wichtige Rolle zu.
Schlagwortartig könnte man zusammenfassen, Notenbanken können nicht die Kompetenz für vielfältige Aufgaben beanspruchen, ohne ihre Unabhängigkeit zu gefährden.17
Prof. Dr. Dr. h.c. mult. Otmar Issing
XVII International Gottfried von Haberler Conference, Vaduz, May 12, 2023.
References
[1] Siehe: Issing, O., 2008, Der Euro – Geburt – Erfolg – Zukunft, München. [2] Siehe: Issing, O., 2022, Entwicklungsgeschichte der Wirtschafts- und Währungsunion, in: Enzyklopädie Europarecht, U. Hufeld und C. Ohler, Hrsg., Europäische Wirtschafts-und Währungsunion, Baden-Baden. [3] Der Terminus ESZB schafft Verwirrung, geht er doch davon aus, dass alle Mitgliedstaaten der EU auch Mitglieder der Währungsunion sind. Dies ist bekanntlich nicht der Fall. Die EZB hat daher auf meinen Vorschlag hin den Begriff Eurosystem eingeführt, in dem die Notenbanken der an der Währungsunion nicht teilnehmenden Mitgliedstaaten nicht eingeschlossen sind. [4] Bade, R. and Parkin, M. (1980), Central Bank Laws and Monetary Policy, unpublished manuscript, Department of Economics, University of Western Ontario, Canada. [5] Für einen Überblick: Masciandaro, D. and Romelli, D., 2015, Ups and Downs of Central Bank Independence from the Great Inflation to the Great Recession: theory, institutions and empirics, Financial History Review 22(3). [6] Issing, O., 2005, Why did the Great Inflation not happen in Germany?, Federal Reserve Bank of St. Louis, Review, March/April. [7] Im Falle der Fed sind es mit "moderaten langfristigen Zinsen" sogar drei Ziele, was in der Praxis aber keine Rolle spielt. [8] Liberale Ökonomen haben sich aus diesem Grund gegen die Unabhängigkeit der Notenbank ausgesprochen. So plädiert Walter Eucken für eine "möglichst automatisch funktionierende Währungsverfassung, … weil die Erfahrung zeigt, dass eine Währungsverfassung, die den Leitern der Geldpolitik freie Hand lässt, diesen mehr zutraut, als ihnen im allgemeinen zugetraut werden kann. Unkenntnis, Schwäche gegenüber Interessentengruppen und der öffentlichen Meinung, falsche Theorien, alles das beeinflusst diese Leiter sehr zum Schaden der ihnen anvertrauten Aufgabe." Eucken, W. 1955, Grundsätze der Wirtschaftspolitik, S. 257, Zürich [9] Rogoff, K. 1985, The optimal degree of Commitment to an intermediate monetary target, Quarterly Journal of Economics, 100. [10] Issing, O., 1993, Central Bank Independence and Monetary Stability, Institute of Economic Affairs, Occasional Paper 89, London. [11] Popper, K., 1957, Der Zauber Platons, Bern, S. 177. [12] Auf die Bedeutung der "No-bail-out Klausel" sei nur hingewiesen. [13] Issing, O., 2022, The ECB´s Political Overreach, Project Syndicate, July 27. [14] Issing, O., 2017, Financial Stability and the ECB´s Monetary Policy Strategy, ECB Legal Conference, European Central Bank, Frankfurt. [15] Auf einer Konferenz der Schwedischen Reichsbank am 10. Januar 2023 hat z. B. der Chairman der Fed Jerome Powell unmissverständlich erklärt: "We are not, and will not be a climate-policymaker." Im Gegensatz dazu hat das EZB Direktoriumsmitglied Isabel Schnabel in ihrem Beitrag dem Klimaziel große Bedeutung zugemessen. [16] Siehe Issing, O., 2019, The Problem with "Green Monetary Policy," Project Syndicate, December 2. [17] Issing, O., 2022, Central Banks: Independent or Almighty?, in J. A. Dorn, Populism and the Future of the Fed, Washington, D.C.