Cancel Culture, DEI, Wokeismus und akademischer Kollektivimus als Teil der Staatskultur
This material was originally delivered as a speech at the XIX GvH Conference in May 2025.
Viele Libertäre definieren Freiheit als Abwesenheit von physischer Gewalt oder deren Androhung. Sie kritisieren, wie Ralph Raico, daher den Freiheitsbegriff von John Stuart Mill. Mill sprach von „the tyranny of the prevailing opinion and feeling to impose, by other ways than civil penalties, its own ideas and practices as rules of conduct on those who dissent from them.” Wahre Freiheit erfordert nach Mill “autonomy” von “the traditions or customs of other people.” Raico kritisiert Mill für dessen Ablehnung von Christentum und Traditionen und zitiert Burke für die Verwischung des Unterschieds zwischen „incurring social disapproval and incurring imprisonment.“
Und in der Tat sind es Eigentumsverletzungen, welche die Freiheit beschneiden und nicht Normen und Traditionen. Wer sich nicht an soziale Normen, Konventionen und Traditionen hält, und mit der Kultur bricht, die evolutiv entstanden sind und wichtige Funktionen erfüllen (Hayek), der muss mit den Konsequenzen leben. Eventuell wird Normenbrecher sozial isoliert oder boykottiert. Wer in einer Dorfgemeinschaft, die Nachbarn nicht grüßt, der wird eventuell nicht mehr zu Nachbarschaftsfesten eingeladen. Dadurch wird indes nicht die Freiheit des Grußverweigerers eingeschränkt. Niemand hat sein Privateigentum verletzt. Im Gegensatz dazu verletzt der Staat systematisch das Privateigentum, indem er unter Androhung von Gewalt Steuern erhebt.
Libertäre wie Ralph Raico oder Murray Rothbard haben mithin aus libertärer Sicht Recht, wenn sie John Stuart Mill für seine Freiheitsdefinition kritisieren und feststellen, dass die Freiheit nicht durch soziale Normen, Konventionen und Traditionen eingeschränkt wird.
Indes darf bei dieser Argumentation ein Punkt nicht vernachlässigt werden. Denn Eigentumsverletzungen können Normen, Konventionen, Traditionen und die Kultur im Allgemeinen beeinflussen.
Machen wir ein Gedankenexperiment. Der Staat entführt alle Bürger, wenn sie ihr 18. Lebensjahr erreichen, für zwei Monate, und unterzieht die Bürger einer erfolgreichen Gehirnwäsche. Von nun an hassen die Bürger alle Rothaarigen und machen sie für die gesellschaftlichen Übel verantwortlich. In der Folge verlieren rothaarige Unternehmer ihre Kunden, Rothaarige werden in Restaurants nicht mehr bedient, und Meinungen, welche die Rothaarigen verteidigen, werden in den Medien nicht mehr veröffentlicht. Dieser Boykott der Rothaarigen geschieht ganz ohne Gewaltanwendung. Das Eigentum der Rothaarigen wird nicht verletzt. Gemäß Verfassung haben sie die gleichen Rechte wie alle Bürger. Dennoch gehört es zur Kultur Rothaarige zu diskriminieren, ungeachtet negativer wirtschaftlicher Konsequenzen. Die Diskriminierung ist durch das Privateigentum gedeckt. Auch wenn formal keine Eigentumsverletzung vorliegt, würden viele intuitiv diese als ungerecht empfinden.
Tatsächlich ist die Situation der Rothaarigen ungerecht. Nicht weil eine Diskriminierung vorliegt, sondern weil die Diskriminierung aufgrund einer Kultur entstanden ist, die entscheidend durch Eigentumsverletzungen geprägt wurde, nämlich die Entführungen der Bürger. Das grundlegende Problem dieses Gedankenexperiments ist Staatskultur, mit dem sich Libertäre noch nicht ausreichend beschäftigt haben.
Die Kultur wird heute entscheidend vom Staat beeinflusst. Die Kultur besteht aus den Traditionen, Normen, Konventionen Vorbildern, Geschichten, Narrativen, Symbolen, Kunst, Ideen, Worten und Werten, welche die Menschen pflegen und mit denen sie die Welt interpretieren. Und auf Basis dieses von der Kultur gesteckten Interpretationsrahmens handeln sie.
Der moderne Staat beeinflusst unsere Kultur auf vielfältige Weise, direkt und indirekt. Das Handeln staatlicher Behörden und Unternehmen, Regulierungen, das staatliche Bildungssystem, die staatlichen Medien, der Wohlfahrtsstaat, das staatliche Geldsystem beeinflussen die Narrative, Ideen und Werte der Menschen, und damit ihr Handeln. Indirekt beeinflusst der Staat die Kultur durch die Finanzierung sogenannter NGOs, aber auch durch seinen Einfluss auf private Unternehmen, die von Steuergesetzgebung, Regulierungen, Subventionen abhängen und oft in vorauseilendem Gehorsam handeln. Je höher die Staatsquote, desto wichtiger wird ceteris paribus für Unternehmen eine gute Beziehung zur Regierung. Als Folge dessen wird die Staatskultur auch von Unternehmen übernommen. Ausdrücke der Staatskultur sind Cancel Culture, DIE, Wokeism und akademischer Kollektivismus.
Teilweise sind die Phänomene mittelbar durch Eigentumsrechte gedeckt. Doch der freie Gebrauch von Eigentumsrechten innerhalb einer Staatskultur hat problematische Folgen. Cancel Culture kann Karrieren zerstören. Der Druck zur Konformität auch von privater Seite kann zu schweren Fehlern führen, wie die COVID-Krise gezeigt hat. Meinungen in sozialen Medien werden ausgeschlossen oder direkt zensiert. Auch die Wissenschaft lebt vom Diskurs und unterschiedlichen Meinungen. Im akademischen Kollektivismus kann sie nicht voranschreiten.
Cancel Culture, DIE, Wokeism und akademischer Kollektivismus wären in einer freien Gesellschaft so nicht möglich. Sie sind Folgen der Staatskultur. Aus libertärer Sicht ergibt sich auf den ersten Blick ein Dilemma. Auf der einen Seite erscheint die Zensur bei Twitter oder Youtube durch die Eigentumsrechte gedeckt. Auf der anderen Seite sind sie aber Folge der Staatskultur. Sollte der Staat etwa in die Eigentumsrechte der Eigentümer von Twitter oder Youtube eingreifen und Zensur verbieten?
Aus liberaler oder libertärer Sicht ist es zunächst einmal wichtig, das Problem zu erkennen. Ferner sollten Cancel Culture, DIE, Wokeism und akademischer Kollektivismus aus libertärer Sicht kritisiert werden, weil sie eben Ausfluss der Staatskultur sind.
Darüber hinaus sollte der Kulturkampf aufgenommen werden. Im Kulturkampf geht es um die besseren Ideen und Werte. Die Ideen, die eine freie Gesellschaft möglich und blühend machen, sollten gegen die Ideen und Werte der Staatskultur verteidigt werden. Konkret sollte die Kultur unterstützt werden, die auch in einer freien Gesellschaft entstünde. Doch woher wissen wir, wie diese aussieht?
Murray Rothbard hat ein analoges Problem behandelt. Er hat sich mit der Frage beschäftigt, welche Preise ein staatliches Unternehmen für seine Produkte erheben sollte, falls das staatliche Unternehmen auf kurze Sicht nicht privatisiert werden kann. Nehmen wir an es gibt eine staatliche Bäckerei und aus irgendeinem Grund lässt sie sich nicht kurzfristig privatisieren. Welchen Preis sollte sie für die Brötchen erheben? Sicherlich sollte sie die Brötchen nicht verschenken, denn das würde zu einer Übernachfrage führen. Sie sollte auch nicht Mondpreise verlangen, denn dann würde sie auf den Brötchen sitzen bleiben. Rothbard argumentiert dafür, dass die Bäckerei möglichst den „Marktpreis“ erheben sollte.
Genauso wie eine staatliche Bäckerei den Markt für Bäckereiprodukte im speziellen und den Markt im allgemeinen verzerrt, so beeinflusst der Staat die Kultur. Er kann sie gar nicht nicht beeinflussen. Der Staat ist niemals kulturell neutral. Er beeinflusst beispielsweise über Lehrpläne an Schulen immer die Kultur, oder über die Sprache, die in seinen Behörden gesprochen wird.
Er die vollkommene Abschaffung des Staates würde den Staatseinfluss auf die Kultur beseitigen. Und solange das nicht möglich ist, welche Kultur sollte von libertärer Seite unterstützt werden? Welche Sprache sollte in den Behörden gesprochen und welche Fächer in den Schulen gelehrt werden? Die Antwort ist analog zu Rothbards Ausführungen. Es sollten die Sprache gesprochen werden und die Fächer gelehrt werden, die in ohne staatliche Beeinflussung in einer freien Gesellschaft vorherrschen würde. Es gilt also die Kultur zu unterstützen, die in einer freien Gesellschaft und ohne Einflussnahme des Staates existieren würde.
Doch hier besteht ganz offensichtlich ein massives Wissensproblem. Woher sollen wir wissen, welche Ideen und Werte, welche Traditionen, Normen und Konventionen in einer freien Gesellschaft existierten? Darüber hinaus wäre in einer freien Gesellschaft die Kultur nicht statisch, sondern würde sich ständig evolutiv entwickeln. Genauso wenig, wie wir exakt den Marktpreis wissen können, der auf einem freien Markt für Brötchen sich bilden würde, um ihn bei der staatlichen Bäckerei anzuwenden, genauso wenig oder noch viel weniger können wir die Kultur einer freien Gesellschaft kennen.
Dennoch ist es nicht so, das wir gar nichts über die Kultur eine freien Gesellschaft sagen können. Genauso wie wir wissen, dass der Marktpreis für ein Brötchen weder Null sein würde, noch ein Brötchen für eine Goldunze verkauft werden würde, können wir etwas über die Kultur einer freien Gesellschaft sagen.
Erstens können wir auf die Geschichte schauen und uns die Kultur ansehen, die bestand, bevor der Staat massiv in die Entwicklung eingegriffen hat. Zweitens können wir die Kultur in Gesellschaften, in denen der Staat einen großen Einfluss auf die Kultur nimmt, und in denen die Staatskultur Oberhand genommen hat, mit Gesellschaften vergleichen, in denen der Staat weniger eingreift und daraus Rückschlüsse formen. Drittens können wir eine Theorie darüber entwickeln, wie die Kultur einer freien Gesellschaft aussehen würde. Welche Werte und Ideen würden eine solche Gesellschaft stabil, harmonisch und blühend machen? Viertens können wir die Folge von staatlichen Eingriffen auf die Kultur analysieren. Beispielsweise senkt das staatliche Rentensystem den Anreiz eine Familie mit Kindern zu gründen. Wir wissen also in welche Richtung die Kultur verzerrt wird und können eine Gegenkultur unterstützen.
Da der Staat nicht neutral bleiben kann, sollten Libertäre kulturell Stellung beziehen und die Kultur unterstützen, die aus der vorgehenden Analyse entsteht. Sie sollten daher gegen Cancel Culture, DEI, Wokeism und akademischen Kollektivismus eintreten, auch innerhalb staatlicher Institutionen.