Die neue Anmaßung von Wissen

Anmaßung von Wissenein Essay von Robert Nef*

Die Fondation Beyeler in Basel widmet Francisco de Goya (1746–1828) eine der bisher bedeutendsten Ausstellungen. Ich benütze die Gelegenheit, um auf die noch nicht abgeschlossene Kontroverse hinzuweisen, die eines seiner bekanntesten «Cappricios» mit dem Titel “El sueño de la razón produce monstruos“ ausgelöst hat.
Ich knüpfe dabei an einen Vortrag an, den ich 2004 an einem Meeting der Mont Pèlerin Society in Hamburg gehalten habe. Ich befasste mich damals unter anderem mit dem Verhältnis von Rationalität und Politik, das gegenwärtig viele Menschen, vor allem in Zeiten der Corona-Massnahmen, zu Recht intensiv beschäftigt.

Anmaßung von Wissen francisco de goya
Francisco de Goya (1746 – 1828)
‘EL SUEÑO DE LA RAZON PRODUCE MONSTRUOS’
‘Der Schlaf (Traum) der Vernunft bringt Ungeheuer hervor’ Aus: Los capriccios, Blatt 43, Radierung und Aquatinta

Es gibt heute Bestrebungen, die gesamte Politik auf wissenschaftlich nachweisbare Fakten abzustützen, um damit als Politiker mit Hilfe der elektronischen Medien den Status des Wahrheitsverkünders zu erreichen, der die einzig mögliche Wahrheit in die Tat umsetzt. Politik wird so zum Anliegen der fortgeschrittenen Vernunft einer aufgeklärten Elite, welche «die Wissenschaft» (welche?) auf ihrer Seite hat und die die Führung beansprucht, um der Wahrheit mit Macht zum Durchbruch zu verhelfen. Die Vorstellung, es gehe bei der Politik um einen gemeinsamen Lernprozess, bei dem sich Menschen mit unterschiedlichen Auffassungen über des Gemeinwohl immer wieder neu gegenseitig anpassen und einigen müssen, geht dabei verloren. Gegner der Regierung werden aus dieser Sicht automatisch zu Abtrünnigen, die man – wohlwollend – als Irrende und «Zurückgebliebene» bezeichnet und übelwollend als Leugner.

Anmaßung von Wissen

Der Ökonom und Sozialphilosoph Friedrich August von Hayek hat das Goya-Zitat aus den «Cappricios» samt Illustration seinem 1975 publizierten Essay “Die Anmassung von Wissen” vorangestellt. Im Internet findet man inzwischen über 700 Hinweise, die sich auf die Widersprüchlichkeiten dieser umstrittenen Aussage beziehen. Ihr «Aufhänger» ist der im Spanischen zweideutige Begriff «sueño», der sowohl Schlaf als auch Traum bedeuten kann.

Die Deutschen unterscheiden die beiden Bedeutungen und verwenden zwei verschiedene Begriffe. “Träume sind Schäume”, heisst ein deutsches Sprichwort, mit dem sich Deutsche vor sich selbst warnen. “Ein Gott ist der Mensch, wenn er träumt, ein Bettler, wenn er nachdenkt”, liest man bei Hölderlin, dem deutschesten aller deutschen Dichter, und da Menschen lieber Götter sind als Bettler, ist das Träumen auch beliebter als das Nachdenken. Von Hölderlin stammt auch die hoch aktuelle Warnung: «Das hat den Staat zur Hölle gemacht, dass ihn der Mensch zu seinem Himmel machen wollte». Der Spanier Calderon hat in seinem berühmten Gedicht über den Traum, auf das Goya wohl angespielt hat, das ganze Leben einen Traum genannt und gleichzeitig die Undefinierbarkeit unzweideutig zum Ausdruck gebracht. “¿Qué es la vida? Una ilusión, una sombra, una ficción, y el mayor bien es pequeño:que toda la vida es sueño, y los sueños, sueños son.”

Hayek selbst sieht im Aphorismus von Goya eine Warnung vor einem blinden Glauben an den Menschheitstraum, die Vernunft könne alle Probleme lösen. Diese Warnung ist eine zentrale Botschaft von Hayeks Gesamtwerk. The sleep of reason produces (or: brings forth) monsters. Er räumt aber ein, dass Goya ursprünglich das Gegenteil gemeint haben könnte. Auch der deutsche Politologe Wilhelm Hennis hebt die romantische, aufklärungskritische Komponente hervor und kommt zu folgendem Fazit: Die Vernunft, die sich etwas “ausdenkt”, produziert Monster: “Der Traum einer universellen, projekteschmiedenden Vernunft gebiert Ungeheuer.”

Bei Goya selbst findet sich in seinem Kommentar zum Blatt 43 ein Hinweis, dass er sich der Doppelbödigkeit seiner Aussage durchaus bewusst war. “Die Phantasie, verlassen von der Vernunft, erzeugt unmögliche Ungeheuer; vereint mit ihr, ist sie die Mutter der Künste und Ursprung der Wunder.” Oder mit anderen Worten: Gebt der Vernunft, was der Vernunft gehört und überlasst der Phantasie den Glauben an die Kreativität und an die Wunder der Spontaneität. Mit dieser Aussage kann ich mich restlos identifizieren. Einmal mehr ist der Autor allen seinen Interpreten überlegen. Es gingFrancisco de Goya also weder um eine Diffamierung noch um eine Verherrlichung der Vernunft, sondern um einen Appell, der Vernunft jenen Stellenwert zu geben, der ihr vernünftigerweise zukommt.

Mit Hayek bin ich der Auffassung, dass kein Individuum den Anspruch erheben kann, die ganze Vernunft zu besitzen und schon gar nicht die Fachleute, die sich das anmassen. Jeder trägt seine persönliche Mischung von Vernunft, Emotion und Illusion mit sich herum, und eine spontane Ordnung zeichnet sich dadurch aus, dass sie den Versuch unterlässt, diese Vernunftinseln konstruktivistisch zu ordnen und mit dem Risiko des grossen Irrtums und der fatalen kollektiven Täuschung hierarchisch zu vernetzen.


*Robert Nef (geb. 1942 in St. Gallen) ist ein Schweizer Publizist und Autor. Er hat Rechtswissenschaften in Zürich und Wien studiert. Zwischen 1961 und 1991 war er wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Rechtswissenschaft an der ETH Zürich. Zwischen 1979 und 2007 leitete er das Liberale Institut, dem er später präsidierte. Gegenwärtig (2018) ist er Mitglied des Stiftungsrats des Instituts. Von 1994 bis 2008 war er Mitherausgeber der Schweizer Monatshefte. Er ist Mitglied der Mont Pèlerin Society sowie der Friedrich-August-von-Hayek-Gesellschaft, Präsident des Vereins Gesellschaft und Kirche wohin?, Vizepräsident der Stiftung Freiheit und Verantwortung und war bis 2016 Präsident der Stiftung für Abendländische Ethik und Kultur. 2008 wurde er mit der Friedrich A. von Hayek-Medaille ausgezeichnet und 2016 mit der Roland-Baader-Auszeichnung.

Robert Nef vertritt betont wirtschaftsliberale und staatskritische Positionen in der Tradition der Österreichischen Schule. Für die Zeitschrift eigentümlich frei ist er als Autor tätig und Mitglied des Redaktionsbeirats. Nef ist einer der Gründer der reformkritischen Schweizer Orthographischen Konferenz.

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